Gelsenkirchen: „Nabucco“

am 8.7.2018

Mehr als der Gefangenenchor

Die Opernsaison 2017/2018 neigt sich dem Ende, welches Highlight sucht man sich also bei den vielen NRW-Produktionen zum Spielzeitausklang aus? In diesem Jahr fiel die Wahl bei mir eher zufällig und terminbedingt auf den Nabucco im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier. Nabucco ist „mehr als der Gefangenenchor“ schreibt das Gelsenkirchener Musiktheater gleich mal als Überschrift ins Programmheft zu Giuseppe Verdis vielleicht bekanntester Oper. Getreu diesem Motto hat man als Zuschauer dann den ganzen Abend auch das Gefühl, dass der Konflikt zwischen Babylonier und Hebräer zwar unterschwellig stets akut ist, aber durch den Blick auf die inneren Tragödien, die sich innerhalb einer Familie abspielen können, deutlich ins Hintertreffen gerät. Diesen Konflikten widmet Regisseurin Sonja Trebes auch gleich die bebilderte Ouvertüre. Hier sieht man Abigaille und Fenena als Kinder im Palast. Während Fenena von Ihrem Vater Nabucco mit Trauben verwöhnt wird, muss Abigaille alleine in der Ecke mit ihren Stofftieren spielen und wird zu allem Überfluss von Fenena auch noch herablassend behandelt. Als Nabucco einen Brief verliert schnappt Abigaille diesen unbemerkt. Öffnen wird sie diesen allerdings erst Jahre später, warum auch immer, um dann zu erfahren, dass sie die Tochter von Sklaven ist. Großartig die junge Abigaille, die während des gesamten Stückes immer wieder zum Einsatz kommt, in dem sie ihrem erwachsenen Alter Ego immer wieder in Gedanken erscheint. Ein hervorragender Regieansatz, der sich konsequent, logisch und für den Zuschauer gut nachvollziehbar durch das gesamte Werk zieht. Gelungen auch die Darstellung der Verquickung dieser inneren Konflikte mit der großen Weltpolitik und in welcher Form hier Manipulation und Beeinflussung Tür und Tor geöffnet wird. Hier sticht insbesondere Dong-Won Seo heraus, der als Oberpriester des Baal eine grandiose Darbietung abliefert. Wenn sein gesanglicher Anteil auch nicht sonderlich groß ist, zeigt er allein durch seine Mimik und sein Schauspiel alle Facetten des auf den eigenen Vorteil bedachten Politikers.

Musikalisch wird man in Gelsenkirchen regelrecht verwöhnt, in allen Rollen gepaart mit großartigem Schauspiel. Allen voran verkörpert Yamina Maamar die Abigaille in all ihrer Zerrissenheit, zerfressen von dem Gefühl des ungeliebten Kindes in einer Intensität, dass man oftmals Mitleid empfindet. Hier zeigt Sonja Trebes bildlich, wie sehr eine unglückliche Kindheit, das ganze Leben katastrophal vorbelasten kann. Der niederländische Bariton Bastiaan Everink, verkörpert den geistig verwirrten Nabucco ebenso glaubhaft wie den großen königlichen Heeresführer. In den weiteren Hauptrollen überzeugen Anke Sieloff als Fenena und Martin Homrich als Ismaele. Einen bleibenden Eindruck hinterlässt Luciano Batinic mit einem beeindruckend voluminösen Bass als Hohepriester der Hebräer. In eher kleineren Rollen runden Tobias Glagau als babylonischer Wächter Abdallo und Shixuan Wie als Rahel (in Gelsenkirchen nicht Anna, gebräuchlich sind inzwischen ja beide Varianten), Schwester des Hohepriesters Zacharias. Mit großem Applaus bedacht natürlich auch der Opernchor des MiR, der in dieser Produktion durch den Extrachor verstärkt wird (Einstudierung: Alexander Eberle). Kraftvoll und voluminös, keinesfalls aber erdrückend erklingt er nicht nur bei „Va pensiero sull’ali dorate“ sondern durch die gesamte Oper. Giuliano Betta lässt die Neue Philharmonie Westfalen in bester Verdi-Tradition erklingen, was den musikalischen Part krönend abrundet.

Absolut lobenswert auch die Kostüme von Britta Leonhardt, die in ihrem Detailreichtum beindrucken und zu jeder Rolle derart passend entworfen wurden, dass einem das Gefühl beschleicht, dass dies selten in einer derartigen Perfektion gelingt. Die Bühne von Dirk Becker ragt als überwiegend dunkler Raum mit einer großen Treppe bis an die Grenze des Orchestergrabens. Hin und wieder werden aber immer wieder starke Akzente gesetzt, wie z. B. die goldene Rückwand im Palast. Schlicht und zur Inszenierung absolut passend. Wie eingangs erwähnt liegt das Augenmerk bei diesem Nabucco nicht auf großen Bildern sondern auf den Beziehungen der Akteure untereinander. Dies zieht Sonja Trebes wunderbar durch die gut 2 ½ Stunden, die in Gelsenkirchen wie im Fluge vergehen. Ein alles in allem perfekter Ausklang der Spielzeit und für alle Opernfreunde, die diese Produktion bislang noch nicht gesehen haben, die Empfehlung eine der 5 Vorstellungen zu Beginn der Spielzeit 2018/2019 im Rahmen der Wiederaufnahme ab dem 16.09.2018 zu besuchen.

Markus Lamers, 15.07.2018
Fotos: © Pedro Malinowski