Welch ein Abend! Hatte der Hörer sich doch vorbereitet auf eine Aufführung von Anton Bruckners Achter! Und dann beginnt das Konzert mit einer Weltsensation, mit der „Ganz kleinen Nachtmusik“ von Wolfgang Amadeus Mozart, einer Serenade, einem bisher unbekannten Frühwerk des jungen Mozart, das in der Leipziger Stadtbibliothek kürzlich entdeckt worden war und deren Erstaufführungen wenige Tage zuvor in Salzburg und in der Leipziger Oper stattgefunden hatten. Herbert Blomstedt, mit stürmischem Beifall empfangen und getragen von einer Welle der Sympathie, leitet einfühlsam und liebevoll die Aufführung des kurzweiligen siebensätzigen Werks in einer Kammerorchesterbesetzung. Wir ahnen die spätere Meisterschaft Mozarts. Die aufmerksame und musikantische Präsentation ist eine schöne Einstimmung auf die nun folgende 8. Sinfonie von Anton Bruckner.
Der 200. Geburtstag von Anton Bruckner prägt in besonderer Weise die Programmgestaltung der Konzertsaison 2024 / 2025 des Gewandhausorchesters. Nach der Sechsten unter Andris Nelsons folgt jetzt die Sinfonie Nr. 8 c – Moll WBA108, in der Fassung von Robert Haas, unter der Leitung von Herbert Blomstedt.
„Bei Bruckner handelt es sich gar nicht um Werke, sondern um Schwindel, der in ein bis zwei Jahren vergessen sein wird“. Das sagt Johannes Brahms über seinen Komponistenkollegen Anton Bruckner, den wir heute als einen der Wegbereiter der sinfonischen Entwicklung von Ludwig van Beethoven hin zur
Zweiten Wiener Schule, zur Moderne bewundern, dessen großartig architektonisch konzipierte Klangkathedralen uns heute im Konzert begeistern. Erst spät von seinen Zeitgenossen gewürdigt, gehört er doch zu den wichtigsten und innovativsten Tonschöpfern seiner Zeit. „Bruckner konnte wie kein anderer Komponist die Unendlichkeit in Zeit und Raum in der Musik darstellen, die Weite, die Ewigkeitsdimension“ (Herbert Blomstedt).
Bruckner ist ein Einzelgänger, Persönlichkeit und Werk scheinen oft widersprüchlich. Er bewundert Richard Wagners Idee eines Gesamtkunstwerks und wird damit zum Feindbild für die Anhänger von Johannes Brahms und für die tonangebenden Musikkritiker in Wien, Hanslick, Kalbeck und Heuberger.
Bruckner stammt aus einfachen Verhältnissen. Seine Marotten, die Kurzhaarfrisur, die weiten Anzüge, die zu weiten und zu kurzen Hosen, der Schlapphut, dazu sein notorisches Pech bei Frauen – so schlug eine seiner Schülerinnen seinen Antrag aus, weil „er allweil so narrisch angezogen“ sei, – über all das mokieren sich seine Widersacher weidlich, und er ist Gegenstand so mancher Karikatur und vieler Anekdoten. Man hält ihn für sonderbar und kurios, nie seiner provinziellen Herkunft entwachsen. Gustav Mahler nennt ihn „Halb Genie, halb Trottel“ – anderen Quellen zufolge wird dieser Ausspruch dem Dirigenten Hans von Bülow zugeschrieben. Andererseits wird Bruckner als Organist in Paris und London wegen seiner Improvisationskunst von Tausenden gefeiert, als Komponist auch in den USA und England zunehmend anerkannt, als Professor für Musiktheorie und Hoforganist in Wien hoch geschätzt. Trotz seiner Erfolge ist Bruckner zeitlebens von Selbstzweifeln geplagt; so gibt es von der Vierten sieben Fassungen, lediglich von der Sechsten eine. Lange bleibt ihm die Anerkennung der Wiener Gesellschaft verwehrt. Er gerät oft an die Grenze seiner Kräfte und macht Lebenskrisen durch. Die Anerkennung derWiener Gesellschaft bleibt ihm lange verwehrt. Die Uraufführung der Siebten, 1884 durch das Leipziger Gewandhausorchester unter Arthur Nikisch, bringt den großen Durchbruch für den Komponisten Anton Bruckner. Hermann Levi in München verhilft 1885 der Sinfonie zum endgültigen Sieg. Am 3. Juli 1887 beendet Bruckner nach dreijähriger Arbeit die Erstfassung seiner 8. Sinfonie. Ausgerechnet Hermann Levi ist es, der die ihm angetragene Erstaufführung der Achten entsetzt zurückweist: „Ich finde es unmöglich, die Achte in ihrer jetzigen Form aufzuführen. Ich kann es mir einfach nicht zu eigen machen! So großartig die Themen auch sind, so zweifelhaft erscheint mir ihre Ausarbeitung; in der Tat halte ich die Orchestrierung für ganz unmöglich“. Der nach dem Einspruch Levis völlig verunsicherte Bruckner erarbeitet eine zweite Version, die er 1890 vollendet. Die Wiener Philharmoniker und der Dirigent Hans Richter sorgen am 18. Dezember 1892 für die erfolgreiche Uraufführung der überarbeiteten 8. Sinfonie, die Bruckner jetzt Franz Joseph I., Kaiser von Österreich, widmet. Dieser ernennt ihn 1886 zum Ritter des Franz–Joseph–Ordens.
Während der Wiener Kritikerpapst Eduard Hanslick das Werk als „im Detail interessant, aber als Ganzes seltsam, ja abstoßend“ fand, schreibt Hugo Wolf: „Diese Symphonie ist die Schöpfung eines Giganten und überragt an geistiger Dimension, an Fruchtbarkeit und Größe alle anderen Symphonien des Meisters“. Die allgemeine Zufriedenheit der Dirigenten mit der von Robert Haas herausgegebenen Mischfassung, in der die 2. Version von 1890 dominiert, bzw. der von Leopold Nowak betreuten Ausgabe der Bruckner – Überarbeitung von 1890 ist vielleicht ein Grund dafür, dass das eigentliche Original erst 1972 in einer neu edierten Fassung von Paul Hawkshaw veröffentlicht wird. Er spricht von „…fast zwei verschiedenen Stücken, besser gesagt von zwei verschiedenen Versionen des gleichen Werks“; erst jetzt zeigen sich die bedeutenden Unterschiede beider Fassungen sowohl in der Instrumentation, der Harmonik, Stimmführung als auch der thematischen Verarbeitung in allen vier Sätzen. Das Hauptthema des Trios wurde verändert, größere Abschnitte sind gestrichen. Bruckners Leben und Werk sind bis heute Gegenstand musikwissenschaftlicher Untersuchungen. Noch immer werden bisher unbekannte Quellen, zahlreiche editorische Ungereimtheiten und Kontroversen gefunden. „Die durch Forschung der letzten Jahre entdeckten neuen Fakten machen das Rätsel um Bruckners Leben und Werk nicht kleiner, sondern eher noch größer“ (Elisabeth Maier, Österreichische Akademie der Wissenschaften).
Auch in der Achten wird Bruckners Orchesterklang von den Registern der Orgel bestimmt, von deren klarer Abgrenzung und den vielfältigen Möglichkeiten ihrer Kopplung. So entsteht die für Bruckners Sinfonien typische Terrassendynamik. Es dominieren die Blechbläser gegen sparsam eingesetzte Holzbläser. Einmalig ist der Einsatz von drei Harfen. Die Polyphonie der Barockmusik, eine oftmals kühne Harmonik, ungleichmäßige Rhythmisierung, Umkehrung, Vergrößerung, Verkürzung und Verschränkung der Themen, kurz, das weite Spektrum großer Kompositionskunst fließt ein in einen klaren periodischen Aufbau seines Werks.
Herbert Blomstedt, der Dirigent des Konzerts, von 1998 bis 2005 Gewandhauskapellmeister, ist vielleicht der kenntnisreichste und maßgeblichste Bruckner – Interpret der Gegenwart. Zwischen Herbert Blomstedt und dem Gewandhausorchester gibt es eine langjährig gewachsene, vertrauensvolle Übereinstimmung. So kann er sich als Dirigent zurücknehmen, engagiert unterstützt von seinem Konzertmeister Sebastian Breuninger. Mit wenigen, oftmals nur kleinen Bewegungen sorgt der Dirigent für feinste dynamische Abstufungen, einen transparenten und gleichzeitig innigen Klang des riesig besetzten Orchesters, schafft eine deutliche Abgrenzung von Instrumentengruppen. Seine Interpretation ist empfindsam, aber ohne romantische Übertreibungen, Spannung ohne Anspannung. Blomstedt selbst spricht von einem Getragenwerden auf Wellen, von einem Surfen auf der Musik. Wie Bruckner denkt Blomstedt die Architektur und Dramaturgie des Werkes vom Ende her. So gelingt es ihm, dass die musikalische Intensität über eine Spieldauer von ca. 85 Minuten nie abreißt und erst in der Apotheose am Schluss des letzten Satzes ihren Höhepunkt findet. Die Achte Bruckners ist sein längstes Werk, ein großartiges Werk von tragischer Wucht. Der erste Satz Allegro moderato beginnt düster und bedeutungsschwer. Nach dem lebensfrohen zweiten Thema in der für Bruckner typischen 2 + 3-Polyrhythmik folgt ein kurzes, verhaltenes drittes Thema. Eine tonale Mehrdeutigkeit beherrscht die Exposition. Seinen ersten Höhepunkt erreicht der Satz nach einer kurzen Durchführung mit Original, Umkehrung, Vergrößerung und Engführung des thematischen Materials mit dem Eintritt der Reprise. Anders als in der Erstfassung endet der Satz in zartem Pianissimo, wie eine „Totenuhr“ (Anton Bruckner). An zweiter Stelle folgt ein Scherzo. Allegro moderato – Trio. Allegro moderato. Eine gedankliche Verbindung zu Beethovens Neunter drängt sich auf.Ein kraftvolles, etwas schwerfälliges Thema in c – Moll wird vielfach verändert: in der Umkehrung, der Instrumentation, der Weiterführung in der Paralleltonart. Die verschiedenen Holzbläsergruppen brechen das Thema auf, bis es schließlich, jetzt in C – Dur, den Hauptteil abschließt. Das Trio. Langsam, in der Zweitfassung thematisch und im Gesamtaufbau verändert, ist wie eine poetische Naturbeschreibung, der dann noch einmal die Wiederholung des Hauptteils folgt. Der dritte Satz Adagio. Feierlich langsam, doch nicht schleppend beginnt mit synkopierten Streichern, über denen sich das erste Thema entwickelt. Ein choralartiger, ernster Tubensatz unterbricht die kantable Stimmung des zweiten Themenkomplexes. Dieses Material, im weiteren Verlauf vielfach und kunstvoll variiert, bestimmt den ergreifenden, ausdrucksvollen dritten Satz, dessen großartigen Höhepunkt zwei glanzvolle Beckenschläge unterstreichen. Mit dem gewaltigen Finale, nicht schnell entwickelt Bruckner noch einmal einen weitgespannten Bogen. Ein massives Hauptthema der Blechbläser auf der Basis der sich in den ersten zwei Takten zum Fortissimo steigernden Viertel mit Vorschlag der Streicher, ein sangliches Doppelthema des Seitensatzes und ein drittes marschartiges Thema bilden die Grundlage des letzten Satzes. Nach vielfältigen Variationen und Umbildungen der thematischen Bausteine in der Durchführung führt der Eintritt in die Reprise zum Höhepunkt der Sinfonie. In der gewaltigen Coda schichtet Bruckner in genialer Weise die Hauptthemen der vorangegangenen Sätze noch einmal übereinander und sorgt damit für einen grandiosen Abschluss dieses Meisterwerks. Nach dem Beginn in c – Moll endet die Sinfonie, die Musikern und Hörern alles abverlangt, in strahlendem C – Dur. Mit dem triumphalen Finale erreicht der Abend seinen bewegenden Höhepunkt.
Das Gewandhausorchester bewies einmal mehr seine hervorragenden Qualität in allen Orchestergruppen. Herrlich der homogene Streicherklang, der stimmige Holzsatz mit den hervorragenden Solospielern Flöte und Oboe, die wunderbare Mischung von Hörnern und Wagner-Tuben, das prächtige Blech! Meine große Bewunderung gilt dem Paukisten, der mit perfektem Timing und dynamisch sehr differenziert den charakteristischen Klang abrundete.
Das Publikum feierte Herbert Blomstedt und seine Musiker zu Recht enthusiastisch mit nicht enden wollendem Jubel.
Bernd Runge, 27. September 2024
Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 8 c – Moll WBA 108 (Fassung Robert Haas)
Gewandhaus zu Leipzig
26. September 2024
Dirigent: Herbert Blomstedt
Gewandhausorchester Leipzig