Premiere: 4.11. 2016., besuchte Aufführung: 8.11. 2016
Eine Oper für den richtigen Ort
Genau vor einem halben Jahrhundert, am 4. November 1966, wurde Venedig zum Opfer eines Hochwassers, wie es die Stadt seit Menschengedenken nicht erlebt hatte. Es gab Tote, die Murazzi – also die seit Jahrhunderten gepflegten Steinwälle, die schon die Serenissima vor den Gewalten des Meeres geschützt hatten – brachen, Häuser und Kirchen wurden überflutet. Es dauerte Jahre, bevor die sichtbaren Schäden repariert werden konnten.
Genau 50 Jahre nach jenem Schreckenstag wurde im Fenice eine Oper uraufgeführt, die an diesen Schrecken erinnert: eine Wasseroper, die ihren wesentlichen Reiz aus jenem nassen Element zieht, das am Ende des 80 Minuten langen Werks als „sposa amorosa“, aber auch als tödliches Wesen beschrieben wird. Immerhin kommt in Filippo Peroccos Oper niemand ums Leben. Weder die 7 Solisten noch der konzertante Chor noch der Bewegungschor noch das Orchester, das vermutlich ein paar jener Spritzer abbekommen hat, die auf der Bühne fleißig produziert werden. Wäre nicht das Wasser, so wäre die Inszenierung Damiano Michielettos über weite Strecken eine statischere Angelegenheit, als es das Sujet vorsieht. Doch ist das Wasser überall: zuerst auf der Bühne, dann im Orchester, durch das fast pausenlos die Wellen rollen – bis das Aquagranda über die Insel Pellestrina rauscht. Perrocco hat mit hoher technischer Meisterschaft eine fast vollkommen dissonante Partitur geschaffen, in der es impressionistisch flimmert. Die „onde“ fließen durch die Orchestergruppen, dass der analytisch orientierte Hörer seine Freude am dunkelbrausenden und schrillen Pfeifen von Wind und Wellen hat. Etwa auf der Mitte des von Roberto Bianchin und Luigi Cerantola gedichteten Werks, das kaum etwas aufweist, was als „Handlung“ bezeichnet werden kann (daher auch im üppigen und schön gemachten Programmbuch keine wirkliche Synopsis zu finden ist), steht die Musik plötzlich fast still. Die beiden Frauen Lilli, die Frau des Ernesto, Sohns des Fischers Fortunato, und Leda, die Freundin Lillis, beten da zu Gott: er möge sie vor den Fluten schützen. Die Ruhe vor dem Sturm…
Aquagranda spielt nicht in der großen Stadt, sondern auf einer der kleinen Laguneninseln, wo man eine gute halbe Stunde auf die Katastrophe wartet. Das Warten dauert, das Wasser steigt (sagt Fortunato), das Wasser fällt (meint sein Kumpel Nane), das Wasser steigt, das Wasser fällt, es regnet und regnet und regnet. Es regnet in einen gewaltigen, von Paolo Fantin entworfenen, schmalen Glaskasten hinein; man sieht dem Wasser sozusagen bei der Arbeit zu, bis die Wasserwand nach oben fährt und, das war zu erwarten, die Massen ablässt. Unten agieren je sechs Männer und Frauen – die Männer halbnackt, die Frauen in eleganten blauen, luftigen Kleidern (Kostüme: Carla Teti) -, und natürlich setzen sie sich dem Wasser aus. All dies übrigens – Stichwort: Eleganz – in formaler Vollendung. Die Inszenierung des Bewegungschors und der Wasserwand, die gelegentlich schön ornamental durchgewirbelt wird, gehorcht einem Rahmen, der der Katastrophe ästhetisch entgegenkommt. Selbst die Reflektion des Wassers an der Decke des Zuschauerraums ist schlichtweg schön. Mehrere Filmsequenzen strukturieren die kaum vorhandene Handlung: ein Dokufilm über das heutige Pellestrina, bewegte Aufnahmen aus dem Venedig des 4. November 1966 und eine hoch ästhetischer Zeitlupenfilm, der uns eine weißgewandete Frau unter Wasser zeigt: eine Ertrinkende, die offensichtlich in Schönheit stirbt – und mit einer roten Schnur (und einem versunkenen Stuhl) in Kontakt kommt, die wir am Beginn von Aquagranda sahen. Denn der Bewegungschor begann mit drei Frauen – vielleicht Allegorien des Wassers und des Windes -, die mit jener roten Schnur eingeführt wurden, bevor die Männer die Gewalt des Wassers gleichsam ausschritten.
Auch der ausgezeichnete Chor des Fenice, der zu Seiten der Bühne steht (links die Frauen, rechts die Männer), zieht dem Werk eine symbolische Ebene ein, die sich als „voce della laguna“ in poetischen Bildern – ja: ergiesst: „Aqua sposa / amorosa / aqua tosa / me morosa“ … „luna stelle sole cieli donna“… Das Wasser steigt, es tost, dann stehen die Winde still, endlich befiehlt der Polizeichef die Evakuierung. Das Finale tönt zunächst euphorisch in den Saal: jubelnde Trompeten entfesseln inmitten einer an diesem Abend bislang nicht gehörten Orchesterharmonie (freilich reizvoll überlagert von dissonanten Passagen) so etwas wie ein Prinzip Hoffnung, bevor das Werk so endet, wie es begann: leise. Marco Angius leitet das Orchester des Fenice: eine Kärrnerarbeit für alle Beteiligten, wenn man bedenkt, dass die Oper mit diesen 9 Aufführungen wieder in der vermutlich ewigen Versenkung verschwinden wird. Freilich macht es wohl nur an diesem Ort, in diesem Opernhaus, den besten Sinn. Die Aura spielt eben eine wesentliche Rolle: hier, wo die Reflektion des Wassers in den Zuschauerraum schwappt und die Orchesterwellen ins Ohr fließen.
Herausragend im Ensemble der Solisten, deren Rollen merkwürdig unkonturiert und wohl eher stellvertretend erscheinen: Andrea Mastroni als Fischer Fortunato und die wunderbare Giulia Bolcato als Lilli. Sie hat die einzigen, wie gemeisselt klingenden Koloraturen zu singen: im wahrsten Sinn des Wortes herausgehoben von zwei starken Männern. Daneben agieren Mirko Guadagnini als Sohn Ernesto (der als solcher nicht erkennbar ist), Silvia Regazzo als Leda, Vincentio Nizzardo als Nane, Marcello Nardis als Polizeichef und William Corrò als Luciano, der Inselapotheker: eine Gestalt wie aus einem neorealistischen Film, der seine Existenz auf der Insel bejammert, während er doch besser in der Stadt der Feste und des „wahren“ Lebens aufgehoben wäre. Doch das „wahre“ Leben spielt immer auch auf Inselchen wie Pellestrina. Mit anderen Worten: an diesem Ort entstand eine gerade für diesen Ort relevante Oper mit einem komplexen Orchestersatz, einer eher monotonen Vokalschicht, einer – typisch italienischen? – kunstvollen Bildästhetik und einer zurückgenommenen Handlung. Das Haus, das nicht gänzlich ausverkauft war – weil Neue Musik vielleicht auch in der Stadt der Biennale nicht wirklich populär ist -,war insgesamt zufrieden. Freundlicher, nicht euphorischer Beifall.
Frank Piontek, 13.11. 2016
Bilder: Michele Crosera