Es ist schon ein ganz besonderes Ereignis, welches das Grand Théâtre de Genève den Melomanen zum Ende der laufenden Saison bietet: Donizettis drei Tudor-Opern wurden in den Saisons 2021 erarbeitet und werden nun zweimal zyklisch en suite gespielt, jeweils innerhalb von sechs Tagen. Sicher, man hat schon andernorts die drei Tudor-Opern von denselben Teams inszenieren lassen doch Aufführungen als Trilogie, sind dann doch eher die Ausnahmen. In Genf nun hat man die drei Inszenierungen der Regisseurin Mariame Clément, der Ausstatterin Julia Hansen, dem Lichtdesigner Ulrik God und der Dramaturgin Clara Pons anvertraut – und bereits nach dem ersten Abend, dieser wunderbaren Anna Bolena, kann man von purem szenischem Glück sprechen.
Mariame Clément ist sich der historischen Verankerung der Tudor-Opern sehr bewusst, sie weiß aber auch, dass Donizetti und seine drei Librettisten sich die Handlungen nach ihrem Gusto und den Anforderungen des Theaters zurechtgebogen haben. Deshalb setzten sie und ihr Team auf eine gewisse, dezente Mischform. In den Kostümen klingen die englische Renaissance an, besonders Enrico (Heinrich VIII.) könnte direkt dem Gemälde seines Hofmalers Hans Holbein d.J. entsprungen sein. Andererseits klingen in den Kostümen und den Frisuren durchaus auch andere Jahrhunderte an, bei Percy und Rochefort Hosen und Stiefel aus dem Risorgimento der Entstehungszeit der Oper und Hemden aus dem 20. Jahrhundert, Smeton ist eine Mischung aus Renaissance und 20. Jahrhundert, manchmal wird auch eine Zigarette angezündet. Und doch wirkt das Ganze erstaunlicherweise wie aus einem Guss. Die Personenführung ist über weite Strecken dezent (außer der Masturbations- und der Vergewaltigungsszene, dazu später mehr), aber genau auf den Punkt und die Sänger nie behindernd.
Als Spielort wurde das blaue Zimmer eines Palasts ausgewählt, ein gigantischer Kubus auf der Drehbühne mit einer Zwischenwand und immensen offenen Flächen, welche Ein- und Durchblicke ermöglichen und Tableau artige Bilder entstehen lassen. Die Rahmen dieser Flächen werden mal mit Jagdtrophäen zugehängt, mal mit einer Art Dschungeltapete im Stil eines Henri Rousseau überdeckt – Naturalismus und Surrealismus reichen sich die Hand. Ganz im Hintergrund eine von Ulrik Gad wunderschön und stimmungsvoll ausgeleuchtete Parklandschaft.
Der Surrealismus hält auch Einzug direkt auf der Bühne: Riesige Vögel schauen im ersten Akt herein (Meisen), ein überdimensionaler erlegter Hirsch liegt auf der Bühne. Das Assoziative dieser Bilder zu erschließen, überlässt die Regisseurin uns Zuschauern. Ein bisschen Gedankenarbeit kann man einem mündigen Publikum ja durchaus zumuten. Zu den Fixpunkten der Inszenierung gehören auch zwei sehr realistische Bäume, die auf der Drehbühne befestigt sind und sich auch mal in den Vordergrund, aber nie in den eigentlichen Spielraum drehen dürfen.
Natur ist Liebe und Poesie, hat aber im kalten Palast der menschlichen Abgründe keinen Platz und muss am Rande bleiben. Auch dass die Regisseurin die Tragik der Anna Bolena quasi aus zwei Perspektiven erzählt, bedarf einiger gedanklicher Eigenarbeit. Mariame Clément bringt nämlich zwei zusätzliche, stumme Figuren ins Spiel: Die Tochter Anna Bolenas, die spätere Königin Elisabeth I. als Kind und als reife Frau. Als Kind hat man Elisabeth schon öfters in dieser Oper auftreten sehen, aber als in Gedanken versunkene reife Monarchin nicht. Sie trägt Dokumente (Todesurteile) in der Hand, man spürt ihre Zweifel an der Macht, ihr Zerrissenheit, ihr Hadern damit, die Fehler des Vaters nicht selbst zu wiederholen, ihr Reich nicht auf Terror aufzubauen. Andererseits ist da das unschuldige Kind Elisabeth, das eine sehr enge Beziehung zur Hofdame Giovanna Seymour unterhält, enger als die Beziehung zu ihrer Mutter Anna Bolena. Dieses Kind wird dann quasi emotional überfordert, wenn der Streit zwischen Anna und Giovanna eskaliert, die Rivalin zur neuen Königin aufsteigt, der Vater die Mutter köpfen lässt und das Kind Zeugin der Hinrichtung wird (Ouvertüre). Das ist von Mariame Clément mit immenser Einfühlsamkeit in die kindliche Psyche gezeichnet, in ein Kind, das zwischen Mutter, neuer Stiefmutter und brutalem Vater zerrissen wird und doch so gerne Bindeglied sein möchte.
Ereignishaft wird das Projekt Tudor-Trilogie in Genf auch durch die Besetzung: Elsa Dreisig singt die Mutter Elisabeths I., in Maria Stuarda die Elisabetta selbst auf dem Höhepunkt ihrer Macht und in Roberto Devereux die Elisabetta am Ende ihrer langen Regierungszeit. Meines Wissens hat das noch keine Sopranistin vor ihr gemacht. Viele wie Gruberova, Mosuc oder Sills haben zwar in allen drei Opern gesungen, in Maria Stuarda allerdings dann die Titelrolle. Die Mezzosopranistin Stéphanie d’Oustrac singt alle Rivalinnen: Giovanna Seymour, die Rivalin Anna Bolenas um Thron und Mann, Maria Stuarda, die Rivalin Elisabettas um den Thron und um Leicester und Sara, die Herzogin von Nottingham, mit welcher sich Elisabetta den Roberto Devereux teilen muss. Edgardo Rocha singt den Verlobten Annas, Percy, den Leicester und den Roberto Devereux. Anspruchsvollste Belcanto-Rollen allesamt. Und diese riesigen Partien jeweils im Abstand von nur zwei Tagen zu singen, ist vokaler Spitzensport in der Topliga. Man kann nur hoffen, dass das gutgeht.
Bei Anna Bolena ging das mit nur kleinen Abstrichen blendend auf. Elsa Dreisig sang eine sehr eigenständige Anna, stolz, selbstbewusst, ehrgeizig – und am Ende nahe dem Wahnsinn, sehr berührend. Die Acuti kamen, manchmal etwas kurzgehalten, dafür intonatorisch gut. Natürlich ist sie (noch) keine zirzensische Verführungskünstlerin wie einstens Caballé oder Gruberova, dafür mit einer Direktheit und Geradlinigkeit des Ausdrucks gesegnet, eine warme Virtuosität ausstrahlend, nie übermäßig forcierend. Packend und leidenschaftlich gelangen die Auseinandersetzungen mit Enrico VIII. und Giovanna Seymour im zweiten Akt. Da hatte sie in Stéphanie d’Oustrac eine Rivalin, die ihr punkto Leidenschaft nichts schuldig blieb. D’Oustrac war aber auch in ihrer Zerrissenheit zwischen Treue zu Anna und Leidenschaft (Ehrgeiz auf den Thron) eine glaubwürdige Freundin und Gegnerin. In der kurzen Eröffnungsszene der Oper Ella di me empfand ich d’Oustracs Tongebung noch als etwas schwankend, doch in ihren grossen Soloszenen und den erwähnten Duetten lief sie zu packender Form auf. Edgardo Rocha als Percy war schlicht perfekt: Jungendlicher Impetus gepaart mit stupender Höhensicherheit und wunderbarem stilitischem Empfinden. ein tenore die grazia wie man ihn sich nicht besser wünschen kann. Alex Esposito verströmte mit seinem rabenschwarzen Bassbariton auch die rabenschwarze Seele Enricos: Gewalttätig, misogyn, ein absolutistischer Drecksack.
Und die kleine Elisabetta musste sich das mitansehen, wie er Giovanna, als sie Zweifel zu äußern wagte und die Beziehung beenden wollte, mit seinen starken Händen quasi an die Wand nagelte und sie vor den Augen der Kleinen vergewaltigte. Eine wichtige Rolle spielt auch der in Anna verliebte Page Smeton: Olena Leser erfüllte sein Schmachten mit wunderschön geführtem Mezzosopran, erinnerte an den alle Frauen anbaggernden Cherubino in Mozarts Figaro. Smeton war es auch, der sich in der Eröffnungsszene das Porträt Annas schnappte, dass Holbein gerade fertiggestellt hatte. Dieses Porträt legte er nun im Schlafzimmer Annas aufs Bett und masturbierte darauf. Das Publikum reagierte eher belustigt. Überhaupt hatte die Regisseurin diese Szene wie einen klassischen Schwank inszeniert. Der Masturbierende wurde erst von Anna mit ihrem Verflossenen Percy gestört und versteckte sich hinter dem Vorhang, bald darauf platzte auch der König noch herein und das Unglück nahm seinen Lauf. Seine Hände im Spiel hatten dabei auch noch der ambitiöse Bruder Annas (Rochefort, mit gutsitzender Stimme William Meinert) und Enricos Mann fürs Grobe (Sir Hervey, gesungen von Julien Henric).
Der Choeur du Gran Théâtre de Genève sang mit ausgesprochener Zartheit seine kommentierenden Einwürfe. Viel Spannendes war aus dem Graben zu hören: Das Orchestre de la Suisse Romande unter der Leitung von Stefano Montanari liess viele Feinheiten in subtil abgestimmer Transparenz aufschimmern, überraschte mit Klängen, die manchmal gar an Monteverdi denken liessen, dann wieder überwog eine wunderbar federnde Sattheit, garniert mit vorwärtsdrängenden rhythmischen Akzenten.
Wenn Anna am Ende in seelischer Verwirrung zu Al dolce guidami anhebt, Elsa Dreisig zarte Süsse in ihre Stimme webt und das wunderschöne Stück mit der Schlichtheit einer Kantate singt und dazu ein gigantischer Blumenkranz vom Bühnenhimmel schwebt, beginnt man endlich mit dieser Frau mitzuleiden, die man zuvor aufgrund ihrer Ambitionen als mitschuldig erlebt hat. Der Hochzeitslärm für Enrico und seine neue Frau Giovanna weckt Anna aus ihrer Lethargie, reisst sie in die Wirklichkeit zurück. Mit einem fulminant gesungenen Coppia iniqua schreitet sie zum Richterblock, verzeiht dem schrecklichen Paar jedoch, legt den schwarzen Mantel ab, darunter trägt sie strahlendes Weiss. Eine Sekunde bevor das Licht erlischt und das Publikum in der Genfer Oper in einen Begeisterungssturm ausbricht, hebt der Henker im Gegenlicht das Beil. Der Kritiker (ich) ist erschüttert – und wartet trotzdem gespannt auf Maria Stuardas Hinrichtung morgen Abend.
Kaspar Sannemann, 31. Juni 2024
Anna Bolena
Gaetano Donizetti
Grand Théâtre, Genf
18. Juni 2024
Regie: Mariame Clément
Musikalische Leitung: Stefano Montanari
Orchestre de la Suisse Romande