Genf: „Tristan und Isolde“, Richard Wagner

Richard Wagners Idealvorstellung vom Gesamtkunstwerk war die Verschmelzung mehrerer Künste (in seinem Fall von Text und Musik, deshalb verwendete er ja auch für seine Musikdramen ausschließlich eigene Dichtungen). Jeglicher Firlefanz (wie Chortableaus oder brutalistische szenische Effekte) war Wagner zuwider; er strebte eine konzentrierte Fokussierung auf das Drama an. Und genau diesen Ansatz nimmt der Regisseur Michael Thalheimer in seiner Neuproduktion für das Grand Théâtre de Genève (Koproduktion mit der Deutschen Oper Berlin) auf.

© Carole Parodi

Vom Bühnenbildner Henrik Ahr ließ er sich eine gigantische Lampenwand von 260 Leuchten, angeordnet in 13 Reihen, auf die schwarze Bühne stellen. Dazu kommt ein liegender, versenk- und horizontal verschiebbarer, schwarzer Quader. An Requisiten sehen wir ein Schiffstau, mit dem symbolisch die schwere Last der übergroßen Liebe durch die Schwärze der Welt gezogen wird, ein Glas Wasser, das nicht getrunken wird, denn diese Liebe braucht keinen Liebestrank (aber sehr wohl die Scherben des zerborstenen Glases für den Suizid) und das Messer Melots, welches sich Tristan quasi als Suizidabsicherung selbst in den Leib rammt. Auch in der Kostümdramaturgie von Michaela Barth spinnt sich diese konsequente Fokussierung auf das Drama fort: Alle Protagonisten tragen schwarz oder weiß oder eine Kombination aus Schwarz und Weiß.

 Isolde tritt im ersten Akt in einer weißen Abendrobe auf (Brautkleid), im dritten Akt ist diese dann rabenschwarz. Im Mittelakt trägt sie ein keusch geschnittenes, schlichtes schwarzes Kleid mit weißem Kragen. Brangänes Outfit ist ziemlich androgyn gehalten: Schwarze Hose, weiße Bluse, schwarze Anzugsweste. Ein Hinweis dafür, dass Brangäne für Isolde weit mehr empfindet als nur fürsorgliche Ergebenheit als Dienerin. Das gibt Wagners Text durchaus her und Thalheimer inszeniert die Szene im ersten Akt auch mit entsprechend einfühlsamer Zartheit. Marke trägt einen strahlend weißen Mantel über dem schwarzen Anzug, Kurwenal ist ganz in Schwarz gekleidet. Einzig der Verräter Melot sticht mit seinem dezent gelbgrünen Anzug etwas heraus. Und dann ist da natürlich das Licht (Stefan Bolliger), welches aus diesen 260 Lampen strömt, die in unterschiedlicher Intensität ganz der Handlung, dem Text und der Musik angepasst von gar nicht, über fahl bis orange und an ganz wenigen Stellen blendend weiß leuchten.

So am Ende beim Liebestod Isoldes (sie ritzt sich mit der Scherbe aus Tristans Hand die Halsschlagader auf). Da verglüht ein Leben in unendlichem Liebesschmerz gleich einem Planeten- oder Asteroidencrash, als den Thalheimer diese größte aller Lieben sieht, als zwei Himmelskörper, die in aller Unerbittlichkeit aufeinander zurasen, zusammenprallen und ein schwarzes Loch hinterlassen, eine Singularität der Materie. (Thalheimer hat sich quasi an höchster Stelle informiert, am CERN in Genf, dem Zentrum der Kernforschung.) Diese Lampen, deren Birnen vorne abgedunkelt sind, sehen denn auch jede aus wie ein Zwergplanet – oder wie beobachtende Knopfaugen. Diese Art von kluger Lichtgestaltung bewirkt ein unausweichliches Versinken in die Handlung.

Denn im Graben sitzt das mit Wagner spätestens seit Armin Jordans Zeiten bestens geschulte einen unentrinnbaren musikalischen Sog von exzeptioneller Durchhörbarkeit. Das ist ein dermaßen betörender Gesamtklang, ein unendlich die Motive und Phrasen weiterspinnendes und eindringlich gestaltendes Fließen, dass man sich diesem verführerischen Sog noch so gerne hingibt, in dem auch aufwallende Kulminationen und Rauschhaftes ihren angemessenen Platz haben.

Für den erkrankten Burkhard Fritz sprang gestern Abend dankenswerterweise Gwyn Hughes Jones als Tristan ein, der vor drei Tagen bereits die Premiere hier in Genf gesungen hatte und nun also in vier der fünf geplanten Vorstellungen zu erleben ist. Sein Tenor ist klangstark, er braucht nie zu forcieren (natürlich auch dank des differenzierten und subtil dynamisch abstufenden Dirigats von Marc Albrecht) und seine Diktion ist gut. Im dritten Akt, mit den erschütternden Fieberwahn-Ausbrüchen des schwer Verwundeten, weiß er seine Kräfte exzellent einzuteilen, so dass keinerlei Ermüdungsanzeichen zu vernehmen sind. Im langen, so wunderbar die Ohren schmeichelnden Liebesduett mit Isolde im zweiten Akt (O sink hernieder, Nacht der Liebe) verschmelzen die beiden Stimmen zu überirdischer Schönheit. Denn Elisabet Strid singt und gestaltet eine Isolde von liedhaftem, intensiv leuchtendem Wohlklang, gepaart mit Leidenschaftlichkeit. Auch sie forciert in keinem Moment, bleibt Liebende, nie Heroine, berührt mit Phrasen voll erfüllter Zartheit und Ausdruckskraft. Das ist alles hervorragend gestaltet, man hängt von Beginn weg, wenn sie mit dem Tau den Quader auf die Bühne zieht, an ihren Lippen.

© Carole Parodi

Wenn man dann zur großen Szene der beiden im zweiten Akt noch den betörenden Mezzosopran einer Brangäne vom Kaliber der Kristina Stanek erleben darf, wird man direkt in den Himmel der Melomanen katapultiert. Kristina Stanek singt ihr “Einsam wachend” und die “Habet acht”- Rufe aus der Höhe des Amphitheaters und die drei Stimmen zusammen mit dem celestialen Klängen des Orchesters bestechen mit einer Schönheit und Zartheit, wie ich sie noch nie live erlebt habe. Genau deshalb geht man in die Oper, um ein solches Gesamtkunstwerk an Musik. Text (und hier auch noch Licht) zu erleben.

Mit eindringlich gestaltenden Interpreten sind die restlichen Partien besetzt. Tareq Nazmi ist ein unfassbar intensiv berührender und tiefgründiger König Marke. Kein dumpf orgelnder Bass, sondern ein doppelt enttäuschter und zutiefst verletzter Mann. Wenn er seinem Unverständnis sonoren Ausdruck verleiht (Mir dies? Dies, Tristan, mir?) leidet man beinahe körperlich mit dem gebrochenen Mann mit. Audun Iversen singt einen fantastischen Kurwenal, besticht mit seinem ebenmäßig geführten, wohlklingenden Bariton und erhält am Ende verdienten Zuspruch des Publikums. Julien Henric ist ein fabelhaft singender und agierender, nerdhafter Verräter Melot, ein richtig unsympathischer, streberhafter Petzer. Emanuel Tomljenović gestaltet mit schöner, heller Stimme den Jungen Seemann und den Hirten und Vladimir Kazakov den Steuermann.

Die Lampenbatterie häng im dritten Aufzug als Decke über der schwarzen Bühne. Erst mit Isoldes Ankunft auf der Burg senkt sie sich langsam wieder in ihre vertikale Position. Zum Liebestod (Elisabet Strid bleibt auch hier ganz liedhaft, unforciert, was wohl nicht allen Wagnerianern im Publikum gefallen hat, mir aber schon) wird die Sängerin zunehmend von blendend weißem Licht der 260 Lampen textgemäß umhüllt (immer lichter, wie er leuchtet … sternumstrahlet, in des Welt-Atems wehendem All), bevor gleich einer Supernova diese größte aller Lieben in einem schwarzen Loch kollabiert. 

Uneingeschränkte Empfehlung!

Kaspar Sannemann, 19. September 2024


Tristan und Isolde
Richard Wagner

Grand Théâtre de Genève

18. September 2024

Inszenierung: Michael Thalheimer
Musikalische LeitungMarc Albrecht
Orchestre de la Suisse Romande