Greek National Opera/Alternative Bühne:
Besuchte Vorstellung am 29. Dezember 2019
Charming! Charming?
Zum Jahresende hat die leichte Muse ueberall Hochkonjunktur. Das ist in Griechenland nicht anders als in Oesterreich oder Deutschland. Neben dem Musical „Chicago“ und Franz Lehar’s unverwuestlicher „Lustiger Witwe“ – um nur zwei Beispiele zu nennen – bringt die Alternative Buehne der Griechischen Nationaloper Alan Jay Lerner’s and Frederick Loewe’s „My Fair Lady“auf die Buehne. Angekuendigt ist eine Inszenierung, welche die Handlung in ein Kabaret verlegt (Ausstattung: Loukia Houliara). Und mit dem Regisseur Giannos Perlegkas uebernimmt einer die Verantwortung, der fuer ungewoehnliche und zugespitzte Sichtweisen bekannt ist. Als Zuschauer geht man darum mit einigen Erwartungen in die Auffuehrung. Tut sich da vielleicht eine alternative Sicht auf das bekannte Musical auf?
Giannos Perlegkas findet tatsaechlich ein Werk vor, dass nicht nur mit grossartiger Musik aufwarten kann, sondern auch ein starkes Libretto aufweist. Das Textbuch basiert auf George Bernard Shaw’s Stueck „Pygmalion“, welches wiederum auf einen antiken Mythos rekurriert. Die Geschichte von Prof. Higgins, der Eliza Doolittle aus der Gosse holt und mittels Sprachtraining zur Dame macht, weist per se interessante, vielschichtige Hauptcharaktere auf. Und das Ende des Musicals kratzt auch, wenngleich behutsam, am patriarchischen Habitus von Henry Higgins und zeigt andererseits eine aufmuepfige Eliza, die weiteres emanzipatorisches Streben zumindest erahnen laesst. Dies ist die Ausgangslage fuer den Regisseur. Warum Perlegkas das Geschehen in die Welt des Kabarets verlegt, wird nicht wirklich ersichtlich. Sicherlich bietet dieses spezifische Ambiente eine gute Moeglichkeit, Rollenbilder zu demaskieren und Identitaeten zu fragmentieren.
Im zweiten Teil des Abends fuehrt uns der Regisseur auf durchaus interessante Weise eine Dekonstruktion der Charaktere vor. Die maennlichen Protagonisten zeigen etwa ihre weiblichen Seiten mittels Strapsen oder Korsett, Higgins findet einen Wiedergaenger in einer Puppe, welche er selbstredend mehr liebt als alle anderen, und Eliza findet sich ploetzlich vervielfacht auf der Buehne. Dieses Vorgehen gibt interessante Einblicke in das Innenleben der Figuren, bremst aber mehr als einmal den Handlungsverlauf zu sehr ab. Letzteres ist bereits im ersten Teil ein Problem, wo sich weder der Charme der Musik noch lebhaftes Treiben auf der Szene in hinreichendem Masse einstellen wollen. Das Kabaret kommt selten so statisch und zaeh daher wie in dieser Inszenierung. Man koennte auch sagen, dass es Perlegkas verpasst, die Moeglichkeiten des Settings auszuschoepfen. Dass er selber als Higgins auf der Buehne steht, erweist sich ebenfalls nicht als Vorteil. Sein Spiel ist zu eindimensional und seine Singstimme zu bescheiden, als dass er die zentrale Position der Rolle wirklich ausfuellen koennte.
Die Inszenierung bleibt bis zur Pause zu unbestimmt und spannungsarm, so dass man die letzten Worte vor der Unterbrechung – „Charming, charming, charming.“ – , von der karikaturhaft gezeichneten Koenigin von Transylvanien ausgesprochen, amuesiert zur Kenntnis nimmt. Nein, Charme hat das Ganze im ersten Teil nun wirklich nicht. Und auch nach der Pause findet sich solcher nur in kleinen Dosen vor.
Bilanzierend kann man sagen, dass die Inszenierung interessante Momente aufweist, aber an teils erheblicher Bewegungs- und Spannungsarmut krankt. Eine wirkliche Alternative bietet diese Einrichtung nicht.
Stathis Soulis ist der Dirigent des Abends, der zusammen mit Victoria-Fjoralba Kiazimi fuer die Klavierbegleitung verantwortlich ist. Die Auffuehrung hat eine musikalische Fassung fuer zwei Pianos gewaehlt, die fuer das Kabaret-Setting gut passt, der Musik aber auch einiges an Farben und Schwung nimmt. Mehr als Perlegkas als Higgins ist es Vassia Zacharopoulou als Eliza, die den Zuschauer interessiert. Sie weiss der Musik auch das noetige Leben einzuhauchen. Gute Leistungen zeichnen das gesamte Ensemble aus, stellvertretend seien genannt: Michalis Titopoulos als Pickering, Vasilis Dimakopoulos als Alfred Doolittle, Ioanna Forti als Mrs. Pearce, Elli Dadira als Mrs. Higgins und Nicolas Maraziotis als Freddy. Eine spielfreudigere Personenfuehrung haette die Beteiligten fraglos zu noch eindruecklicheren Leistungen gefuehrt. Giannos Perlegkas hatte wohl zu viel Goethes Faust im Kopf – als welcher er zu Beginn des zweiten Teils auf der Buehne erscheint(!) – und zu wenig die musikalische-szenische Sprache des Musicals.
Das Publikum spendet nach dreieinhalb (allzu lang gewordenen) Stunden sehr freundlichen Beifall.
Bilder (c) V.Isaeva
Ingo Starz, 1.1.2019
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