Besuchte Aufführung: 5.3.2017, (Premiere: 3.2.2017)
Grenzerfahrung eines Fischers
Zu einem in jeder Beziehung atemberaubenden Opernabend geriet die Neuproduktion von Georg Friedrich Haas’ auf einem Libretto von Jon Fosse – er schrieb auch den Roman gleichen Titels – beruhenden Oper „Morgen und Abend“ am Theater der Stadt Heidelberg. Aber dass dieses hochkarätige Opernhaus ein gutes Händchen für die moderne Oper hat, weiß man ja schon lange. Es gehört zum ständigen Konzept von Operndirektor Heribert Germeshausen, Zweitinszenierungen erfolgreicher Uraufführungen an seinem Theater zu präsentieren. Und er hat bisher damit immer Erfolg gehabt – so auch dieses Mal. Aus der Taufe gehoben wurde „Morgen und Abend“ am 13.11.2015 am Londoner Royal Opera House Covent Garden in englischer Sprache. Die Uraufführungsinszenierung war später noch an der koproduzierenden Deutschen Oper Berlin zu sehen. Und jetzt also auch in Heidelberg, wo das Werk in der deutschen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel gegeben wurde. Warum nicht in der englischen Originalsprache?
Holger Falk (Johannes)
Mit Tageszeiten im engeren Sinn hat Haas’ Oper nichts zu tun. Vielmehr geht es um Geburt und Tod des Fischers Johannes. Nicht miterleben ist hier angesagt, sondern mitfühlen. Das Stück thematisiert in sehr emotionaler Weise das Thema Sterben und mag sogar geeignet sein, so manchem die Angst vor dem Tod zu nehmen. Es geht um das Ahnen von Sachverhalten, die dem Menschen ansonsten unbekannt sind. Was ihn normalerweise erschreckt und verängstigt, wird in das genaue Gegenteil verkehrt und erscheint letzten Endes als sanft und milde. Grenzerfahrungen sind es, die hier auf so einrucksvolle Art und Weise thematisiert werden. Die Quintessenz ist, dass dem Tod nichts Schreckliches anhaftet. Es ist nicht zum ersten Mal, dass sich der im Jahre 1953 in Graz geborene Haas mit derartigen Themen auseinandersetzt. Man erinnert sich noch gut an seine in den vergangenen Jahren bei den Schwetzinger Festspielen aufgeführten drei Opern „Bluthaus“, „Koma“ und „Thomas“, in denen es um ähnliche Inhalte ging.
Holger Falk (Johannes), Hye-Sung Na (Signe)
Die Oper ist in zwei Teile gegliedert. Der erste gehört dem vom Komponisten als Sprechrolle konzipierten Fischer Olai, der bang der Geburt seines Sohnes entgegensieht. Innerlich versetzt sich Olai in den Sohn, den er Johannes nennt, hinein und vollzieht imaginär den Geburtsvorgang mit. Der zweite Teil beschäftigt sich dann mit Johannes. Er wacht eines Morgens in seinem Bett auf und muss feststellen, das alles anders ist als gewohnt. Seine Frau Erna und sein bester Freund Peter sind tot, nur seine jüngste Tochter Signe besucht ihn noch jeden Tag und sieht nach ihm. Zu ihr hat er ein besonders inniges Verhältnis. Auf einmal fühlt er sich leicht und luftig, viel besser als zuvor. Er steht auf. Der Schmerz ist geschwunden, und er glaubt wieder jung zu sein. Auch seine Umwelt scheint ihm ganz und gar verändert. Nacheinander erblickt er Erna und Peter, obwohl beide bereits tot sind. Sie treten mit ihm in Kontakt, während Signe, die nach ihrer Großmutter väterlicherseits benannt ist, ihn nicht sehen kann und sogar durch ihn hindurchgeht. Peter klärt Johannes auf: Johannes ist an diesem Morgen gestorben. Er, Peter, habe noch einmal etwas Materie angenommen, um seinen besten Freund ins Jenseits zu geleiten. Gemeinsam schreiten sie hinüber.
Ks. Winfrid Mikus (Olai), Hye-Sung Na (Hebamme)
Es ist schon eine ungewöhnliche Geschichte, die sich hier vor den Augen des Zuschauers abspielt. In gewissem Sinne ist sie sogar autobiographisch, denn sie beruht auf einem Nahtoderlebnis, das Haas als Kind hatte. Er musste sich als Vierzehnjähriger einer Operation an einer großen Zehe unterziehen. Dabei wurde er in Narkose versetzt und verlor das Bewusstsein. Was daraufhin passierte, schildert der Komponist in einem im Programmheft abgedruckten Gespräch mit Sebastian Hanusa: „Aber dann habe ich etwas erlebt, was man nicht wirklich als Traum beschreiben kann. Plötzlich war mir klar: Ich bin tot. Ich stieg auf in eine bestimmte Welt. Ich wartete mit vielen anderen darauf, abgeholt zu werden in einen anderen Raum. Und dann merkte ich, ich bleibe übrig. Das war für mich eines der schrecklichsten Erlebnisse in meinem Leben: dieses Bewusstsein, wieder zurück zu müssen ins Leben. Und das war verbunden mit einerseits einem gleißenden und hellen Licht und andererseits einer lauten Klangwolke von extrem hohen Tönen“.
Holger Falk (Johannes), Katherine Lerner (Erna)
Die von Haas hier erwähnte Klangwolke ist in der Oper auch zu hören, und zwar am Ende, genau in dem Augenblick, in dem Johannes und Peter ins Jenseits aufbrechen. Sie ist in höchster Lage angesiedelt und extrem laut. Man muss sich regelrecht die Ohren zuhalten, wenn sie aus dem Orchestergraben dringt. Den Musikern hat der Komponist an dieser Stelle Ohrschützer empfohlen. Laut geht es indes auch an anderer Stelle der Oper zu. So bereits zu Beginn, wenn die Pauke und die großen Trommeln die Geburt des Helden einleiten. Sie sind als mächtige Wehen der Mutter zu deuten. Man merkt: Hier wird unter größten Schmerzen und Anstrengungen ein Mensch geboren. Aber auch mit leisen Tönen wartet Haas zur Genüge auf. Insgesamt ist die dynamische Skala des Werkes recht ausgeprägt. Es findet ein reger Wechsel zwischen Singen und rhythmischem Sprechen auf den Tönen statt. Das gilt besonders für Johannes. Sein Vater Olai, wie bereits oben erwähnt, beschränkt sich auf reines Sprechen.
Angus Wood (Peter), Holger Falk (Johannes)
Ein wesentliches Element für die Tonsprache von Haas allgemein ist die Mikrotonalität, das bedeutet die „Unterteilung der Oktave in kleinere bzw. andere Schritte als die der wohltemperierten Halbtonskala“ (vgl. Programmheft). Viertel- und Sechsteltöne sind in „Morgen und Abend“ aber selten und nur der Hebamme und Signe zugeordnet. Der Grund dafür ist nach Haas’ Auskunft, dass er den Musikern in der nur knapp bemessenen Probenzeit das Lernen dieser extrem schwierigen Mikrotöne nicht zumuten wollte. Man kann indes durchaus der Ansicht sein, dass er dem Philharmonischem Orchester Heidelberg, das unter der Leitung von GMD Elias Grandy einfach grandios aufspielte und den ganzen Reichtum der ungewöhnlichen Partitur mit großem Glanz vor den Ohren des begeisterten Publikums ausbreitete, Derartiges schon hätte zutrauen können. Dieser Klangkörper ist durch lange Übung mit den Erfordernissen der modernen Musik sehr vertraut. Bei den Musikern von London und Berlin mag das anders sein. Das Heidelberger Orchester hätte diese Herausforderung sicher mit Bravour gemeistert. Haas’ Musik weist kein festes Metrum auf und scheint ständig zu schweben. Die für diesen Komponisten typischen crescendierenden und dann wieder decrescendierenden Klanggebilde ohne eine prägnante Rhythmik sind sehr atmosphärischer Natur und ziehen den Zuhörer ganz in ihren Bann. Mächtige Cluster und schwirrende Glissandi tun ihr Übriges, um den Klangeindruck zu verstärken. Und wenn Regisseur Ingo Kerkhof, der in Heidelberg kein Unbekannter mehr ist, den Chor im Rücken der Zuschauer im Rang positioniert, ergibt dies ein ganz eigenes Hörerlebnis von enormer Wirkung. Auch Peter darf einmal vom Rang aus singen.
Angus Wood (Peter), Holger Falk (Johannes)
Kerkhof und sein Team – Bühnenbild: Anne Neuser, Kostüme: Inge Medert – haben ebenfalls gute Arbeit geleistet. Es ist ihnen eine geschlossene, in sich ruhende und stille Inszenierung zu bescheinigen, die sich zudem durch eine logische, unaufdringliche Personenregie auszeichnet. Das Ganze ist in Dunkel gehüllt, der Hintergrund wird an keiner Stelle hell. Das Licht erschließt sich einem nur durch die Musik. Mit der Einbeziehung des Zuschauerraumes in der ersten Szene beweist der Regisseur seine Fähigkeiten im Umgang mit den Lehren von Bertolt Brecht. Als Einheitsbühnenbild dient ein offenes Haus mit Bett und Küche, das Johannes als Wohnstätte dient. Es ist ein recht reduzierter äußerer Rahmen, in dem die Zeit manchmal still zu stehen und dann wieder vorwärts zu schreiten scheint. Dem entspricht es, dass das Haus sich mit Hilfe der Drehbühne immer wieder dreht. Sein ständiges Rotieren symbolisiert den Fluss der Zeit. Zu Beginn sieht man Olai und seine Freunde, wie sie vor dem Haus lagern und der Geburt von Johannes entgegenfiebern. Dieses Bild kehrt am Ende wieder. Der Sinn ist klar: Das Ganze kann von vorne beginnen. Der Vorgang wiederholt sich. Ein neuer Mensch wird geboren werden, dessen Lebensbahn der von Johannes nicht unähnlich sein wird.
Ks Winfrid Mikus (Olai), Hye-Sung Na (Hebamme), Statisterie
Auch mit den gesanglichen Leistungen konnte man zufrieden sein. Holger Falk ging voll und ganz in der Partie des Johannes auf, die er darstellerisch mit intensivem Leben füllte. Vokal bestach er mit gut sitzendem, klangreichem Bariton und einer guten Diktion. In der Doppelrolle der Hebamme und der Signe bewährte sich mit substanz- und farbenreichem lyrischem Sopran die zierliche Hye-Sung Na, die ihre Parts auch überzeugend spielte. Eine wunderbare, gefühlvolle und bestens grundierte Altstimme brachte Katherine Lerner für die Erna mit. Regelrecht heldisch klang der kraftvoll und ausdrucksstark, dabei mit bester Fokussierung seines ansprechenden Tenors singende Peter von Angus Wood. Auch Ks. Winfrid Mikus’ trefflich deklamierender Olai vermochte für sich einzunehmen. Eine ansprechende Leistung erbrachte der von Ines Kaun und Anna Töller einstudierte Chor und Extrachor des Theaters und Orchesters Heidelberg.
Fazit: Eine hervorragende Ensembleleistung aller Beteiligten, die die Fahrt nach Heidelberg wieder einmal voll gelohnt hat! Die hundert Minuten lange, ohne Pause durchgespielte und regelrecht preisverdächtige Aufführung wird jedem Opernfreund dringendst ans Herz gelegt. Der Besuch lohnt sich!
Ludwig Steinbach, 6.3.2017
Die Bilder stammen von Annemone Taake