Der 1986 aus der Taufe gehobene „Kissinger Sommer“ mutiert längst zu einem beliebten Fest programmatischer Vielfalt. Locker reihen sich die Veranstaltungen aneinander: Musik aus unterschiedlichen Leiträumen, vorwiegend zentraleuropäische Klassik und Romantik geben den Ton an. Mehr oder weniger reden die um Ewigkeitswerke rotierenden Programmkonzeptionen dem Publikum ganz schön nach dem Mund. „Best of classic“ Hits sind die dynamischen Kräfte, die das beliebte Kissinger Festival seit dreißig Jahren zum Publikumsrenner machen. Recht buntscheckig nimmer sich aus, was die unermüdlich koordinierende Intendantin Kari Kahl Wolfsjäger zu griffigen Paketen schnürt. Von Klassik-Galas im historischen Regentenbau über Virtuosen-Auftritte, Liednachmittage, kammermusikalische Recitals bis hin zu Opernrecitals – ein buntscheckiger Reigen prägt ein Festival, das den Glamour nicht verachtet. Jetzt hängt die künstlerische Leiterin, die aus Norwegen stammende Kulturmanagerin Kari Kahl-Wolfsjäger, ihren Job an den Nagel. Sie drückte dem Festival von allem Anfang an ihren speziellen dramaturgischen Stempel auf. Ein wenig amtsmüde ist sie geworden, obwohl sie kein Hehl aus ihren Plänen macht, in München mit Freunden was ganz spezifisch auf junge Künstler zugeschnittenes Konzept aufzuziehen. „Es ist schon ein Balance-Akt, dieses Programme-Schmieden. Allzu experimentierfreudig darf man nicht herumhantieren. Das könnte leicht unliebsamen Überraschungen führen. Selbst über das Prachtstück, Jean Sibelius Violinkonzert (gespielt von Viktoria Mulova) rümpfte man die Nase, ganz zu schweigen von Dmitri Schostakowitsch’s fünfter Sinfonie, die so mancher durch Johannes Brahms oder Beethoven ersetzt wünschte“. Wie auch immer: einen Riecher, auch die Moderne auf den Programmzettel zu schmuggeln, dafür riskierte die mit allen dramaturgischen Wässern gewaschene Norwegerin auch aufregende Konzert-Formate wie viel gelobte, immer wieder diskutierte Spezialität, die „Liederwerkstatt“, für die in der Regel eine eingefleischte Komponisten-Garde für innovative Taten Spalier steht. Namen wie Aribert Reimann, Wolfgang Rihm, Manfred Trojahn, Steffen Schleiermacher hoben mit entdeckungsfreudigen Vokalisten und Begleitern eigens für die „Liederwerkstatt“ geschriebene Piècen aus der Taufe.
In der Finalrunde, der letzten Veranstaltungswoche, präsentiert der neue Shooting Star der internationalen Pianistengarde, Daniil Trifonov, seine Visitenkarte. Dreifaches Hornsignal, wuchtige Akkordschläge der Bamberger Symphoniker, und der Hochgelobte meiselt gewaltige Akkordschichtungen in den Saal. Den rasanten Beginn verfolgt man mit bannender Aufmerksamkeit. Mit diabolischen Zauberformeln wartet der Russe wohl nicht auf. Es regiert weder Aufdringliches noch frappieren rattenfängerische Extratouren. Umso mehr faszinieren die nach innen gewandten Züge, die fein abgestuften Piani und die subtile Anschlagsnuancen. Und würde ihm die kleinen keinesfalls uncharmanten agogischen Freizügigkeiten nicht zugestehen? Wie rasant geht es durch die Oktavläufe der Einleitung zur Kadenz. Leichtgewichtig geling ihm die schemenhafte Abtönung der Prestissimo-Episoden im Mittelteil des langsamen Satzes, der gar nicht sentimental gesüßt klingt. Die turbulenten Ausbrüche wie das con fuoco des schnell voran getriebenen Finales stehen unter dem Diktat eines straffen Rhythmus. Was Trifonov hier an Energie und Technik vorführt, kann wahrlich hören lassen. Dem Reiz des Virtuosen applaudierten die Zuhörer begeistert.
In der zweiten Sinfonie von Johannes Brahms sorgt David Afkham mit den Bamberger Symphonikern für spannungsvolle Reibungen. Da weht zweitweise ein recht raues Lüftchen. Wie es der Cellogruppe gelingt, mit breitem Bogenstrich zu artikulieren, ohne dass sich übertriebenes Vibrato aufdrängt, verdient Respekt. Dem lastenden Ernst des Adagios antwortet kammermusikalisch ausgefeilt eine freundliche Naivität des Allegretto-Intermezzos. Als jubelndes Finale mit schmetternden Effekten behandelt Afkham den Finalsatz, mehr „con fuoco“ als con spirituo.
Die Jungen, die „Next Generation“, geben beim Kissinger Sommer schon immer den Ton an. Es sind nicht nur stupend aufspielende Solisten auf kammermusikalischen Podien. Auch jung besetzte Orchester ziehen in den Bann wie das Australian Youth Orchestra, das der Routinier Manfred Honeck als eine rhythmisch lebendig und detailfreudig auftretende Gruppe vorführt. Aufhorchen lassen in Antonín Dvoráks e-Moll Sinfonie „Aus der neuen Welt“ sensible Register der Nuancierung in den Holzbläsern. Man staunt wie stimmig das Werk in den Proportionen gerät – ein sympathisches sinfonisch-landschaftliches Seelengemälde.
Hélène Grimaud erweist sich als freizügig-bravouröse Interpretin, der daran gelegen ist, das düster und unwirsch hereinbrechende d-Moll Klavierkonzert op. von Johannes Brahms wenigstens im zweiten und dritten Satz aufzulichten und ein wenig in die Nähe der frühen Klaviersonaten zu rücken. Grimauds Brahms bleibt lyrisch timbriert in den Kantilenen, drängend explosiv in den Ausbrüchen. Nach dem d-Moll Einstieg sympathisierte sie (im Einklang mit dirigentischen Vorstellungen) mit einer im Stil schwerblütigen Rede und paukenuntermalter Dunkelheit. Virtuosität dominiert in den geballten Akkordschichten und Doppeloktaven. Verinnerlichte Emphase trägt das Adagio. Das schwere Klangparfum, das sich meist über die choralartige Gesangsszene legt, löst sich weitgehend in lichte, fein abschattierte Kantilenen auf. Für die Ansprüche des Finale bringt Grimaud den knurrig-grimmigen Humor ein ebenso die konzertante Bravour, um die heiklen Parallelläufe nicht im Pedal ertränken zu lassen.
Lawrence Foster gehört zweifelsohne zu den immer gern gesehenen Maestri des inneren Kreises der in Kissingen aktiven Pultlenker, während der Bekanntheitsgrad des „L’Orchestre Philharmonic de Marseille in Deutschland nicht gerade als hoch zu veranschlagen ist. Doch lässt sich über die Spielkultur des stark verjüngten Orchesters wohl staunen, vor allem darüber, mit welchem instrumentalen Feinschliff und stilistischen Geschmack das südfranzösische Team die Geigerin Sara Domjanic begleitet. Nun technisch ist die Geigenlady aus Vaduz allen Anfechtungen gewachsen. Erwärmend im Ton, ohne brutale Gefühlsdrücker, tönt das oft genug sentimental zerdehnte Adagio. Dieser Jungstar weiß worauf es ankommt, und es fehlt ihm weder an Nachdruck noch an rhetorischem Glanz. Eine fein- und vielgestufte Ausdrucksskala bewahrt die Interpretin vor hemmungsloser Schwelgerei im Wohllaut.
Mit Arien von Giuseppe Verdi und Giacchino Rossini legt Simone Kermes, die ja gemeinhin „Alte-Musik-Trouvaillen“ fulminant zu interpretieren versteht, große Ehre ein. Flott musiziert, im Rhythmus vibrierend betont, im Lauf der Koloraturen lupenrein dargeboten, geraten die Piècen zum vokalen Glücksfall. Als reaktionsbehende Weggenossen begleitet die Marseiller Gruppe den Gewinner der Klavierolympiade 2015Jorge González. Er spannt in Mozarts Klavierkonzert KV 414 klangschöne melodische Bögen und macht Eindruck mit pianistischer Kunstfertigkeit. Sein Spiel verrät Charme und Witz. Ein Viertelstündchen ausdrucksvolles Spiel der Flöte aus den kompositorischen Händen von Leonard Berstein unter dem Titel „Halil“ weckt Erinnerungen an den im Kampf gefallenen israelischen Flötisten Yadin Tanenbaum. Berührende Innerlichkeit und eine übermächtige Kampfsituation des Krieges reflektiert die Altflöte im Solo feingliedrig sensibel, stellenweise auch dramatisch aufflammend als ein Weiterleben der Seele.
Wie gelenkig die Tuba musikalische Impressionen zu vermitteln vermag, davon kündet „Fables für Tuba und Streichorchester. Schlussendlich setzt eine rhythmisch gepfefferte Ragtime Bearbeitung für Bläser und Percussion saftige Akzente zum Finale.
Das von heiterer Daseinsfreude und von Licht durchfluteter Stimmung erfüllte Violinkonzert von Johannes Brahms befindet sich in der Petersburger Abschlussgala bei dem first-class Geiger Leonidas Kavakos in besten Händen. Begleitet wird der mit seelenvollem Ton und makelloser Phrasierung alle vertrackten konzertanten Konflikte meisternde Geiger vom Orchester des Mariinsky-Theaters St. Petersburg unter Valery Gergiev. Bei allen Doppelgriffen, Oktavgängen, den schroff angerissenen Akkordbrechungen und figurativen Durchläufen wirkt das Spiel von Kavakos souverän. Oft gerät das Adagio zu einer Szene des großen Schluchzens, wird aufdringlich mit Klangfett bestrichen und in allzu schön gestrickten Kantilenen getaucht. Schmalzig-sentimentale Beigaben verabreicht Kavakos nicht. Umso mehr offenbart sich der musikalische Geschmack in fein ausschwingenden melodischen Bögen. Schließlich gelingt das brillant-zigeunerhafte Allegro giocoso pointiert, rhythmisch gestrafft. Vorzüglich klappt auch die Koordination mit dem Petersburger Orchester. Gergiev sorgt für akkurate Interaktion.
Das allerbekannteste aus der Feder von Peter Tschaikowsky lockt zum Abschluss – die Erstfassung von Tschaikowskys „Nussknacker“. Dazu gesellen sich noch in einer nachträglichen Bearbeitung durch Tschaikowsky die Hits der Suite – die muntermachende Miniatur-Ouvertüre und der wunderschöne Walzer für die Blumen. Die Petersburger Symphoniker adeln Tschaikowskys instrumentierte Partitur mit muskulösem Spiel.
Mittlerweile hat der neue Intendant Tilman Schlömp (er kommt vom Beethoven-Fest Bonn) sein Amt angetreten. Er wurde bei seinem Amtsantritt gleich mit einer Kürzung des Festival-Etas von € 200.000 konfrontiert. Das zwingt den neuen Intendanten zu einem gezielten Fundraising. Im Übrigen musste Bad Kissingen – so das Bekenntnis der bisherigen Intendantin – einen Rückgang der Besucherzahlen hinnehmen. Der aktuelle Auslastungsgrad wird mit rund 87% beziffert. Da seien aber nach Meinung Kahl-Wolfsjäger nicht künstlerische Aspekte verantwortlich, sondern in erster Linie der Rückzug des Fünf-Sterne-Hotels (Steigenberger). Davon sind vom Luxus verwöhnte Naturen, die „Convenience“ besonders hochhalten, wohl weniger begeistert. Ein neues Hotel-Projekt soll bis dato noch nicht in Planung sein. Für die Zeit von 2017 – 2021 wird die Bremer Kammerphilarmonie unter Paavo Järvio in die Rolle eines Orchesters in Residence schlüpfen.
Egon Bezold 29.7.16