Ist es ein Akt der Wiedergutmachungen, dass Regisseur Barrie Kosky den Halbgott Hercules, den Georg Friedrich Händel zwar zum Titelgeber für sein Musikalisches Drama gemacht, aber im Verlauf von über drei Stunden nur mit drei Auftritten und zwei Arien bedacht hatte, auf der Bühne des Schillertheaters mit zwei gewaltigen Gipsstatuen allgegenwärtig sein lässt? Eine ist dem Farnese Herakles nachgebildet, die zweite erinnert an Rodins Denker. Dominiert wird die Szene allerdings von der eifersüchtigen Gattin Dejanira, aber auch von Lichas, eigentlich ein Bote, mit je sechs Soloauftritten – eine seltsame Konstellation, die den Regisseur dazu veranlasste, aus letzterem eine jüngere Schwester des Herakles werden zu lassen, akustisch kein Problem, da von Händel einem Kastraten zugedacht, allerdings ursprünglich für die vom Komponisten hochgeschätzte Altistin Susanna Maria Cibber bestimmt, die die Uraufführung wegen einer Erkrankung jedoch nicht singen konnte.
Die Oper schildert die letzten Tage des Erdenwandels des zeitlebens von der Göttin Hera verfolgten Sohnes der Alkmene, Gattin des Amphytrion, und Jupiters, ehe der Göttervater seinen Sohn zu sich auf den Olymp und damit zur Unsterblichkeit beförderte. Bereits den Säugling hatte Hera durch Würgeschlangen aus dem Weg räumen wollen, unzählige Heldentaten musste er vollbringen, mehrere Ehen ging er ein, zeugte unzählige Nachkommen, ehe ihn, angekommen im Olymp, die inzwischen versöhnte Hera mit ihrer Tochter Hebe vermählte. Der Librettist Thomas Broughton, ein Shakespeare-Verehrer, der den Dichter im Text des Chors zitiert, stützt sich auf Ovids Metamorphosen und Sophokles‘ Die Trachinierinnen und schildert den Zeitraum, in dem Herakles mit der Kriegsbeute Iole, einer Königstochter, zu seiner Gattin Dejanira zurückkehrt, die in durch die antiken Quellen als zu Recht bezeugte Eifersucht verfällt, während die Oper Herakles in dieser Hinsicht freispricht und aus Herakles‘ Sohn Hyllus und Iole ein Paar werden lässt. In blinder Eifersucht, einem weiblichen Othello gleich, bringt Dejanira Herakles dazu, ein todbringendes Gewand anzulegen, das mit dem Blut des Nessus getränkt war, der einst die junge Frau über einen Hochwasser führenden Fluss tragen sollte, sie aber zu vergewaltigen versuchte, worauf Herakles ihn erstach. Listig hatte der Sterbende erklärt, käme ihr Gatte mit dem Blut in Berührung, würde er ihr auf ewig in Liebe verbunden sein. In der Sage handelt Dejanira in gutem Glauben, auf der Bühne des Schillertheaters hingegen hat es den Anschein, dass die damit zu einem schillernden Charakter werdende Gattin den möglichen Tod des untreu Geglaubten zumindest billigend in Kauf nimmt, denn sie vermeidet es geschickt, das Gewand zu berühren. Als sie jedoch der Folgen ihres Tuns gewahr wird, verfällt sie in Wahnsinn.
Es gibt viele Opern, die fest verwurzelt in ihrem historischen Umfeld sind wie Andrea Chenier oder Le Nozze di Figaro und für die sich das Versetzen in die Jetztzeit verbietet. Der Mythos ist nicht an eine Epoche gebunden und überall und jederzeit zu verorten. So ist der überhelle, zeitlose Raum (Katrin Lea Tag), sind die alles andere als antiken Kostüme durchaus gerechtfertigt, machen sie doch das Überzeitliche der Geschichte deutlich. Wer allerdings mit so sparsamen optischen Mitteln eine so überwältigende Wirkung wie die der Premiere im Schillertheater erzielen will, der muss viel Kenntnis, Können und Liebe einzusetzen haben, und bei Barrie Kosky ist das der Fall. Es ist die hochintelligente, bis in die letzte Geste hin ausgefeilte, dabei liebevolle Personenregie und es sind die phantastischen Sänger, die Solisten wie der Chor, die den Abend zum Ereignis machen.
In Frankfurt, wo die Produktion bereits zu sehen war, hatte Kosky zur Bedingung gemacht, dass die englische Mezzosopranistin Paula Murrihy die Dejanira übernehmen würde, und nun kam auch das Berliner Publikum in den Genuss ihrer phänomenalen Leistung voller Hingabe an die Partie, die irrwitzigsten Verzierungen meisternd, textverständlich und mit so vielen Facetten die Partie ausstattend, dass es einem den Atem verschlagen konnte. Die Stimme ist nicht eine im langläufigen Sinne schöne, aber eine alle Nuancen von Trauer, Jubel, Wut, Verzweiflung und Irrsinn vermittelnde. Den Vergleich mit den Herkules-Statuen nicht zu scheuen brauchte der Bass Brandon Cedel, der nicht nur optisch, sondern auch vokal mit gewaltigem, dabei geschmeidigem Stimmmaterial aufwarten konnte. Als recht schwächlichen, ganz im Schatten des Vaters dahin kümmernden Sohn Hyllus hatte die Regie die Tenorpartie angelegt, die Caspar Sing anvertraut war. Erst die Liebe zur seines Schutzes bedürftigen Iole lässt ihn erwachsen werden, auch wenn das große Liebesglück wohl nicht in der Regieabsicht liegt. Das Ensemblemitglied, das in dieser Saison noch in diversen Partien zu erleben ist, entledigte sich seiner Aufgabe mit Anstand und Können. Einen frischen, klaren Sopran und viel Bühnenpräsenz setzte Penny Sofroniadou für die Iole ein. Susan Zarrabi wäre genauso glaubwürdig als männlicher Lichas gewesen, wie sie es mit androgynem Mezzo für die weibliche Lichas tatsächlich war. Schönes Stimmmaterial hatte Noam Hein für den Priester des Jupiter.
Zu Recht ist längst in der Komischen Oper nicht vom Chor, sondern von Chorsolisten die Rede, als die sich einmal mehr die die Regiewünsche hingebungsvoll erfüllenden und gleichzeitig eindrucksvoll singenden Choristen unter David Cavelius erwiesen. Der Chor tritt in unterschiedlichen Funktionen auf, was durch die Lichtregie von Joachim Klein deutlich wird. Im Orchestergraben zauberte David Bates mit dem auf Originalinstrumenten musizierenden Orchester der Komischen Oper Glanz, Pracht, Drive und Stringenz barocker Musik. Wäre diese Aufführung 1745, natürlich in damals „modernen“ Kostümen in London über die Bühne gegangen, dann wäre sie nicht der beklagenswerte Misserfolg gewesen, der beinahe zum finanziellen Ruin des Komponisten geführt hatte.
Ingrid Wanja, 3. März 2024
Hercules
Georg Friedrich Händel
Komische Oper Berlin im Schillertheater
Besuchte Premiere am 3. März 2024
Inszenierung: Barrie Kosky
Musikalische Leitung: David Bates
Orchester der Komischen Oper Berlin