Abends steht Ruth Brauer Kvam als durchtriebenes Luder Velma Kelly im Musical Chicago auf der Bühne des Schillertheaters, den Tag über inszenierte sie in den letzten Wochen die Uraufführung der Kinderoper Nils Holgerssons wundersame Abenteuer nach Selma Lagerlöfs Roman Die wundersame Reise des kleinen Nils Holgerssons mit den Wildgänsen, ein stattliches Buch von 700 Seiten, das vor allem das Ziel hatte, den kleinen Schweden ihre Heimat nahe zu bringen. Fünf Kapitel hat sich Librettistin Susanne Felicitas Wolf ausgewählt, darunter die Begegnung mit dem Fuchs, die mit den Grauratten und die mit der Trollkönigin. Und wenn es der schwedischen Dichterin um die Vermittlung geographischer Kenntnisse ging, so legt man in der Komischen Oper auf andere Themen wert, so in der Szene, in der die Bewohner eines Feuchtgebietes sich vom Landhunger einer Bauernfamilie bedroht sehen und ihren Lebensraum nur dadurch retten können, dass sie das von einem Adler entführte Baby der Bäuerin heil in die Arme der Mutter zurückbringen. Das klingt nach Agitprop, ist es aber beileibe nicht, denn es gibt nur ebenso behutsame wie einleuchtende Modernisierungen und Aktualisierungen, alle Themen sind perfekt auf ein kindliches Publikum zugeschnitten und der Nachmittag insgesamt kann Kinder wie Erwachsene erfreuen mit seiner bei Lagerlöf wie in der Komischen Oper verkündeten Botschaft vom seelischen und geistigen Wachsen durch Erfahrungen.
Elena Kats-Chernin hat mit Schneewittchen und die sieben Zwerge und Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer bereits vor dem Nils zwei Opern für die Komische Oper komponiert, und wieder sind ihr einprägsame Melodien und gut singbare Songs gelungen, mitreißende Chorszenen, auch für den Kinderchor gut geeignet, und immer wieder ist man dankbar, dass sie nicht in einen austauschbaren musikalischen Brei abdriftet, wie man ihn von den schlechteren unter den Musicals zur Genüge kennt. Davon können sich Kinder und Eltern auch noch zu Hause überzeugen, denn jedem kleinen Besucher wurde ein Büchlein mit einer CD als Einlage beim Betreten des Hauses in die Hand gedrückt., und ich bin sicher, dass meine Enkelin, kaum nach Hause gekommen, sie gleich noch einmal hören möchte.
Von der Komischen Oper, die nicht wie andere Häuser Kinder abwechselnd zu Weihnachten mit Die kleine Zauberflöte und Hänsel und Gretel abspeist, ist man es auch gewöhnt, dass die Inszenierungen genauso sorgsam vorbreitet werden wie die für das erwachsene Publikum. Das ist auch für Nils Holgersson der Fall mit einem zwischen märchenhaft und realistisch schwankendem Bühnenbild von Alfred Peter, je nach Schauplatz, dem Zimmer des Nils oder der Burgruine, in der die Grauratten hausen. Besonders gefallen konnte die Schilflandschaft, und auch die Lichtregie (Johannes Scherfling) trägt viel zum Verzaubern des Publikums bei. Phantasievoll sind die Kostüme von Alfred Mayerhofer, die keinesfalls nach Naturalismus bei der Gestaltung der Tierfiguren streben, deren Charakter jedoch stets erfassen. Bei der Trollkönigin allerdings huldigt man dem in den letzten Jahren ausgeprägten Hang der Komischen Oper zu Glanz und Glitter. Es wird viel getanzt, denn Flugversuche der Reisegefährten des Nils wären wohl eher zum Scheitern verurteilt gewesen, und die Choreographie von Martina Borroni versteht es, den Tänzen der Wildgänse Schwerelosigkeit zu verleihen.
Hoch zufrieden kann man auch mit den Leistungen der Gesangssolisten sein. Der Tenor Caspar Krieger, gegenwärtig fest engagiert beim Münchner Gärtnerplatztheater, war ein glaubwürdiger Nils mit durchdringendem Tenor, wobei nicht verschwiegen werden soll, dass man mit Miniports arbeitete. Wie alle anderen Mitwirkenden verfügt er über eine beispielhafte Diktion, so dass man wirklich jedes Wort verstehen konnte, Übertitel nicht nur überflüssig waren, aber auch für einen Teil der Zuschauer noch gar nicht nutzbar gewesen wären. Sein Reisegefährte Marten, die Hausgans, war seinem Tenorkollegen Ferdinand Keller anvertraut, der sich seiner Aufgabe ebenfalls mit Bravour entledigte. Einen farbigen, mit erotischem Flair begabten Mezzosopran und viel Spielfreude setzte Sylvia Rena Ziegler für die Wildgans Akka ein, dem Fuchs Smirre verlieh Johannes Dunz viele darstellerische Facetten, keinerlei Ausfall gab es beim Rest des Ensembles, seien es die Eltern Mirka Wagner und Carsten Sabrowski, Elisabeth Wrede als Bäuerin, Alma Sadé als Daunenfein oder Philipp Meierhöfer als Ville Vätte und Olle. Es gab keinerlei Ausfall, und auch aus dem Orchester , das von Erina Yashima geleitet wurde, klang es schwungvoll-elegant und sängerfreundlich- und am Ende war der Jubel riesengroß. Schade nur, dass es wohl nach der Uraufführung nur noch Vorstellungen am Vormittag für Schulkinder gibt.
Ingrid Wanja, 12. November 2023
Nils Holgerssons wundersame Abenteuer
Elena Kats-Chernin
Komische Oper Berlin
Besuchte Uraufführung am 12. November 2023
Inszenierung: Ruth Brauer-Kvam
Musikalische Leitung: Erina Yashima
Orchester der Komischen Oper Berlin