Zirzensisches
Aus der (hoffentlich!) nur vorübergehenden Not des Unbehaustseins macht die Komische Oper Berlin die Tugend der Beweglichkeit und damit zugleich der Vielseitigkeit, indem sie neben dem Ersatzspielort Schillertheater auch noch viele andere Stätten bespielt, und das nicht nur mit Opern, sondern, der Spielplanpolitik der vergangenen Jahre zu Fortsetzung verhelfend, auch darüber hinausgehend sich der Popkultur annähernd. Das Unternehmen nennt sich Schall& Rausch oder auch Festival für brandneues Musiktheater, was aber keine Anspielung auf die häufigen Autobrandstiftungen im damit besonders beglückten Stadtteil bedeuten soll. Es geht um den Vielvölkerbezirk Neukölln, wo in der ehemaligen Kindl-Brauerei oder im Heimathafen auch türkische Künstler auftreten und damit vielleicht mehr Publikum mit Migrationshintergrund angelockt wird als jahrelang im Stammhaus mit türkischen Untertiteln. Aber auch das ukrainische Komponistenduo von Opera Aperta ist zu erleben, das die Sprengung des Kachowka-Staudamms zum Thema eines seiner Werk gemacht hat. Die in der Komischen Oper traditionell immer besonders zahlreich vertretene queere Szene lädt nach den Vorstellungen zum wahrscheinlich sehr gemütlichen Zusammensein in das SchwuZ ein, und am Tag der Premiere von Pferd frisst Hut stehen allen in Neukölln vier weitere Veranstaltungen auf dem Programm.

Teil des Schall&Rausch Festivals ist auch Pferd frisst Hut, komponiert von Herbert Grönemeyer nach dem 1851 in Paris uraufgeführten Vaudeville von Eugéne Labiche mit dem Titel Un chapeau de paille d‘Italie, bereits 1928 von René Clair verfilmt, ebenfalls 1928 in deutscher Sprache mit Heinz Rühmann als Der Florentiner Hut, 1941 in Frankreich noch einmal und 1955 in der Vertonung von Nino Rota als Un cappello di paglia di Firenze zur Operette werdend. Der Titel Pferd frisst Hut orientiert i an einer Aufführung von 1936 in New York City von Orson Welles mit Joseph Cotton in der Hauptrolle und dem Titel Horse eats Hat. Wer das Stück kennt sieht in seiner Wahl den Grundsatz des künstlerischen Leiters des Festivals, Rainer Simon, zuvor Dramaturg unter Barrie Kosky, manifestiert, die Treue zum Vorhaben, der Zuschauer „soll eine gute Zeit“ haben, also eine Absage an das immer noch en vogue befindliche Miesepetertheater, das die deutsche Theaterlandschaft heimgesucht hat.
Worum geht es? Eine ehebrechende Dame ist der Verzweiflung nahe, weil ihr Hut bei der Rückkehr von einem Stelldichein von einem Pferd gefressen wurde und ihr bei der Heimkehr ohne denselben ein ähnlich schreckliches Schicksal droht. Der Besitzer des Gauls und seine gesamte zu seiner am gleichen Tag stattfinden sollenden Hochzeit angereist Verwandtschaft bemühen sich, eine Ersatzkopfbedeckung aufzutreiben und lassen ein fürchterliches Chaos entstehen.

Betitelt ist die Aufführung auch mit Die beiden Herberts, denn Komponist und Regisseur bedienen sich des gleichen Vornamens und haben bereits in Basel bei der Uraufführung und bei der deutschen Erstaufführung bei der Ruhrtriennale zusammen gearbeitet. Dem Publikum der Komischen Oper ist der Regisseur bereits aus zwei ihre titelgebenden Helden veräppelnden Inszenierungen, Don Giovanni und Der fliegende Holländer, bekannt, zur Arbeit an Pferd frisst Hut kann die Zustimmung zu seiner Arbeit eine allgemeine sein. Von vor lauter Lachen außer sich geraten wollte allerdings bei der Premiere im Schillertheater niemand, es blieb bis zur Pause auffallend ruhig im Publikum, gab in derselben sogar einen kleinen Exodus, am Schluss allerdings war der Beifall ein einhelliger und herzlicher. Er galt natürlich ganz besonders dem Komponisten, der immer unverkennbar er selbst war, aber auch Ballade, Italo Pop, eigentlich alle nur denkbaren musikalischen Strömungen in sein Werk eingearbeitet hat. Die Arrangements stammen von Thomas Meadowcroft, das Orchester der Komischen Oper wurde von Dirk Kaftan mit Schwung und Sinn für Knalleffekte durch den Abend geleitet.
Herbert Fritsch, nicht nur Regisseur, sondern auch für Ausstattung und Choreographie verantwortlich, hatte für ein kunterbuntes Bühnenbild mit vielen Türen und einer Treppe gesorgt, durch das die Mitwirkenden in atemberaubendem Tempo und ebensolcher Artistik turnten und eher ein zirzensisches Festival als eine „Musikalische Komödie“ boten, Slapstick den Vorrang vor Ballett hatte, das aber so bravourös, dass man aus dem Staunen nicht heraus kam, Präzision und Kondition der Mitwirkende bewundern musste. Attraktiv und ihre Träger charakterisierend waren die Kostüme von Geraldine Arnold, dass man zum Regisseur auch noch einen Arrangeur, nämlich Thomas Meadowcroft, brauchte, wundert bei dem kunterbunten Geschehen auf der Bühne nicht.
Ein schmales Kerlchen von Fadinard, der unselige Bräutigam, der den Hut auftreiben muss, ist Christopher Nell mit nimmermüder akrobatischer Gelenkigkeit, viel Charme und für diese Gattung angemessener Stimme. Die drei Damen, derer er sich zu erwehren hat, sind Pauline Plucinski als betrunkene Braut Héléne, die trotzdem einigen Charme ausstrahlt, Sarah Baurett als Ex Clara mit aufreizender Körperlichkeit und ebensolchen tänzerischen Einlagen und Helene Bohndorf als des Hutes verlustig gegangene Anais. Ihre Verwandlungsfähigkeit beweisen Florian Anderer und Gottfried Breitfuss, aber auch alle anderen sind unverwechselbar und perfekt in ihren jeweiligen Partien, so Hubert Wild als Nonancourt, Werner Eng als Tardiveau, Matthias Buss als Beauperthus, Kaspar Simonischek als Felix, Daniel Petrenko als Maurice und Pia Dembinski als Virginie.

Totgelacht wie der Theaterlegende nach bei der Uraufführung 1851 ein unseliger Zuschauer hat sich zum Glück in der Komischen Oper niemand, aber gut unterhalten gefühlt hat man sich und von Bewunderung für alle Mitwirkenden erfüllt war man auf jeden Fall.
Herbert Grönemeyer trägt sich mit dem Gedanken an eine „melancholische Oper“ und hat bereits das Sujet dafür im Sinn. Nach dem Erlebnis mit dem hutfressenden Pferd kann man sich in freudige Erwartung versetzt fühlen, rät allerdings dafür zu einem anderen Regisseur und zum Verzicht auf sich auf Teufel komm heraus reimen sollende Verse wie
Brauch‘ Pause
Will nach Hause
Ich bin mürbe
Mir’s zum Würgen
Ich bin verdammt
Ich will zu meinem Mann
Es ist fatal
Ich fühl mich fahl.
Da hatte wohl die Muse Erato jeglichen Kuss verweigert.
Ingrid Wanja, 9. Februar 2025
Pferd frisst Hut
Herbert Grönemeyer
Komische Oper Berlin
Premiere am 8. Februar 2025
Regie: Herbert Fritsch
Musikalische Leitung: Dirk Kaftan
Orchester der Komischen Oper