Berlin: „Hänsel und Gretel“, Engelbert Humperdinck

Für ein Publikum von 9 bis 90

Die Deutsche Oper hat seit Jahrzehnten Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck auf dem Spielplan, und in der Inszenierung von Andreas Homoki tummeln sich anstelle der Engel Clowns auf der Bühne. Die Staatsoper provozierte meine jüngste Enkelin zu dem Schreckensruf: „Oma, sind die krank!?“ angesichts zweier Protagonisten mit überdimensionalen Papp(?)köpfen, kreiert von Achim Freyer.. „Braucht Berlin wirklich eine dritte Hänsel-und Gretel-Inszenierung?“, fragt sich da angesichts einschneidender Sparnotmaßnahmen jeder die Spielpläne kritisch beäugende Hauptstadtbewohner. „Ja, ja, dreimal ja“, wenn es eine so poetische, lustige, zum Nachdenken anregende und spannende Inszenierung ist wie die von Dagmar Manzel verantwortete. Wie bereits bei Pippi Langstrumpf ist der Schauspielerin, Sängerin und Regisseurin wieder ein großer Wurf gelungen, voller neuer Einfälle und doch das Werk respektierend, Kinder, Eltern und Großeltern gleichermaßen erfreuend und sicherlich wieder ein Publikumsmagnet wie die Kinderoper um Tom Sawyer, die im Mai wieder in den Spielplan aufgenommen wird.

© Jan Windszus

Engelbert Humperdinck hatte gemeinsam mit seiner Schwester Adelheid Wetten für deren Töchter und für den Hausgebrauch und als Geburtstagsgeschenk für den Vater der Mädchen komponiert und einstudiert. Den Grundstein für das Libretto bildete das Märchen der Brüder Grimm, Bechstein trug das im Stück geäußerte Gottvertrauen bei, Abendsegen und Gänslein-Lied entnahm man der Sammlung Des Knaben Wunderhorn, und Ein Männlein steht im Walde stammt von Hoffmann von Fallersleben, der leider keine Klarheit darüber schuf, ob damit der Fliegenpilz oder die Hagebutte gemeint sei. Die Produktion an der Komischen Oper entscheidet sich eindeutig für die Hagebutte, wie ein tanzender Rosenstock beweist. Die Uraufführung in Weimar wurde von Richard Strauss geleitet, Cosima Wagner erbat sich für ihre Aufführung in Dessau vom Komponisten einen abschließenden Dessauer Marsch, den auch Dagmar Manzel in ihre auf einen triumphalen Schluss Wert legende Inszenierung aufgenommen hat. Sie beruft sich außerdem auf den Einfluss der russischen Märchenfilme mit Baba Jaga und ihrem auf Hühnerfüßen stehenden Hexenhaus, betont, dass die Inszenierung auch unter dem Einfluss des Voynich-Manuskripts, von Horst Sagert und den Heidi-Büchern steht, die sie als Kind, aber auch als Mutter und Großmutter kennen und schätzen gelernt hatte.

© Jan Windszus

Das Bühnenbild von Korbinian Schmidt ist so schlicht wie phantasievoll, für szenische Üppigkeit sorgen eher die die vielen tanzenden Kinder und die erwachsenen Tänzer, sei es als Engel, als Hexen, als Kuchenkinder oder einfach als „Wesen“ wandelbaren Charakters, mal auf Seiten der Hexe, mal auf der Hänsels und Gretels. Das Himmlische Kind (Wilma Hermine Rummel) und der Komödiant (Manni Laudenbach) eröffnen und beschließen den Reigen der zauberischen Wesen, denen die Menschenkinder bei ihrem Abenteuer im Wald begegnen. Manzel hat auch den Mut, die Ouvertüre in weiten Stücken uninszeniert zu lassen, die Engel könnten ebensolche, aber auch liebevoll gestaltete tanzende Insekten, mal auf Rollschuhen, mal auf Spitzentanzschuhen sein, da wird der Phantasie sehr viel Freiraum vergönnt. Die Kostüme (Victoria Behr) sind wahre Wunderwerke. Enttäuschend mag für manches Kind nur das Knusperhäuschen ohne jede Leckerei gewesen sein, als Entschädigung konnte allerdings die immer mal wieder nach der verschütteten Milch gierende Katze gelten. Und fast ein Wunder: Die Produktion kommt ohne ein einziges Video aus, vermag allein durch die Benutzung von Holz, Pappe und Farben und den geschickten Einsatz von Licht zu verzaubern.

© Jan Windszus

Ihr Geschick und ihre Erfahrung zeigt Dagmar Manzel auch in der Personenführung. Günter Papendell ist mit markantem Bariton ein deftiger Peter, Ulrike Helzel, noch aus der Deutschen Oper bestens bekannt, findet warme wie angemessen keifende Töne für die Gertrud. Ganz zauberhaft singt Opernstudio-Mitglied Julia Schaffenrath mit kristallklarem Sopran Sand- und Taumännchen. Der Knusperhexe von Daniel Kirch hätte man noch mehr hexenhaftes charaktertenorales Keifen gewünscht, aber das hätte dann wohl nicht zu ihrer optischen Wohlbeleibtheit gepasst. Optisch wie vokal waren Susan Zarrabi (Hänsel) und Alma Sadé (Gretel) Idealbesetzungen mit warmem Mezzosopran und silbrigem Sopran. Hinreißend sang der Kinderchor den jubelnden Schluss (Leitung Dagmar Fiebach), die üppige Romantik der Partitur aufs Schönste aufblühen ließ Yi-Chen Lin am Dirigentenpult. Am Premierenabend waren nur relativ wenige Kinder im Publikum, aber es gibt Aufführungen für Schulklassen, und wenn nicht mit dieser, kann man mit keiner Produktion ein junges Publikum für die Oper gewinnen.

Ingrid Wanja, 25. Januar 2025


Hänsel und Gretel
Engelbert Humperdinck

Komische Oper Berlin

Premiere am 25. Januar 2025

Inszenierung: Dagmar Manzel
Musikalische Leitung: Yi-Chen Lin
Orchester der Komischen Oper Berlin