Kein Weihnachtsmärchen
„Hurra, hurra, die Hexe brennt“, möchte man auch in der Komischen Oper singen, obwohl es sich nicht um Hänsel und Gretel handelt, die sich bereits im Repertoire der beiden anderen Berliner Opernhäuser befinden, während das jetzt zeitweise im Schillertheater beheimatete Haus mit einer Uraufführung für die Kinder und mit einem Musical für die Erwachsenen prunkt, in dem noch eine Reihe weiterer Personen als schmackhafte Pastete endet.
Durchaus mithalten mit den ewigen Kassenschlagern Carmen und Zauberflöte kann zumindest bei den Premieren der laufenden Saison Stephen Sondheims zwischen Musical, Musical Thriller oder black operetta schlingerndes Werk Sweeney Todd oder im Original The Demon Barber oft he Fleet Street, das außer an der Komischen Oper Berlin noch in Hildesheim, Dortmund, Mönchengladbach und Saarbrücken aufgeführt wird oder werden soll. Nicht nur auf der Bühne war und ist das Werk erfolgreich, sondern es gibt, nicht zuletzt wegen seiner filmischen Erzählweise, auch mehrere Verfilmungen, am bekanntesten die von Tim Burton mit Johnny Depp in der Titelpartie. Eine deutsche Übersetzung von Wilfried Steiner, die die meisten Bühnen bevorzugen werden, ist vorhanden, während Nicht-mehr-Intendant (aber als solcher hatte er die Aufführung bereits geplant), sondern Nur-noch-Regisseur Barrie Kosky das englische Original inszeniert. Er begründet das nicht zuletzt damit, dass das Werk so gut wie durchkomponiert ist und der englische Text sich durch seinen ganz besonderen, unübersetzbaren Humor auszeichne. Dafür hat die Darstellerin der Witwe Lovett, Dagmar Manzel, sich zwei Jahre lang ins Cockney-English gestürzt, tritt nun aber, so Kosky, als eine „Immigrantin aus Berlin“ auf. „Sie spricht Englisch mit einem wunderbar merkwürdigen Berliner Akzent.“ Was aber könnte berlinerischer sein als das der Produktion vorangestellte Motto: Rache ist Blutwurst!
Die so schreckliche wie komische Geschichte vom zu Unrecht zu 15 Jahren Zwangsarbeit in Australien verurteilten Barbier, der sich nach seiner Rückkehr nach London an seinen Verfolgern rächt und damit nicht nur seine Gelüste befriedigt, sondern mit dem reichlich anfallenden menschlichen Frischfleisch der Pastetenbäckerin Nellie Lovett zu Wohlstand verhilft, entstammt einem Groschenroman aus dem Jahre 1846, das Libretto von Hugh Wheeler, eigentlich einem Autor von Kriminalromanen, stützt sich auf einen Text von Christopher G. Bond, und das Musical schließlich erlebte 1979 seine Uraufführung am Broadway und brachte es auf nicht weniger als neun Tony Awards.
Wer im Berliner Schillertheater eine Bühne à la Charles Dickens erwartet hatte, mag von der von Katrin Lea Tag entworfenen zunächst enttäuscht gewesen sein, aus der Mischung zwischen „Berlin Falladas und London von Thatcher“, aber die Riesenfotos der hässlichen Häuserfronten, vergilbt und unscharf, entwickeln schnell ihren ganz eigenen, abstoßenden Zauber und bringen Pastetenimbiss im Erdgeschoss und Barbiersalon im ersten Stock bestens zur Geltung. Die Umrahmung der Bühne durch eine Attrappe, die ein viktorianisches Theater mit fein gerafftem Samtvorhang zeigt, ist ein entlarvender Kontrast dazu. Auch die Kostüme lassen eine Verortung hier und dort, dann und wann zu und sind in jedem Fall Atmosphäre stiftend. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch die Lichtregie von Olaf Freese. Was aber wäre das alles, wenn nicht die bis ins kleinste Detail durchgefeilte Personenregie von Barrie Kosky jeder Figur ihr unverwechselbares, schillerndes, vielfältige Empfindungen im Zuschauer wachrufendes Profil verliehen hätte! Da stimmt einfach jede Geste, jeder Akzent, wurde der Zuschauer hin und her gerissen zwischen Abscheu, Verständnis, Mitleid oder Betroffenheit, alles, was ein Musical ansonsten kaum leisten kann. Zwischen Grauen und Lachen ist da jeweils nur ein winziger Schritt.
Neben den Solisten ist erneut der Chor der Komischen Oper unter David Cavelius ein Star. Er ist einmal Kommentator, mit dem Publikum kommunizierend auf griechische Art, und einmal Antagonist seiner selbst und perfekt, wie man es von ihm gewohnt ist. An Moritaten gemahnend sind seine Auftritte zu Beginn und am Schluss. Generalmusikdirektor James Gaffigan lässt das Orchester bei allem Schwelgen auch in die Nähe von Dreigroschenoper und Co. oder in machtvolles Dies-Irae-Drohen gleiten.
Glücklich schätzen kann sich Dagmar Manzel, dass sie einen Regisseur wie Barrie Kosky gefunden, und glücklich dieser sich preisen, dass er eine Protagonistin wie Dagmar Manzel zur Umsetzung seiner Ideen zur Verfügung hat. Es ist einfach umwerfend, wie sie extreme Amoralität mit spießbürgerlichem Glücksstreben in der Figur der Nellie Lovett miteinander zu verbinden weiß, wie sie aufkeimende Sympathien des Publikums sofort wieder verscherzt und Antipathien in Mitgefühl zu wandeln weiß. Dazu kommt noch eine angemessene vokale Leistung. Christopher Purves ist ihr als gestandener Opernsänger natürlich vokal überlegen, aber als Paar ergänzen sie einander in bewundernswerter Weise. Tom Schimon ist abonniert auf die Partie des Tobias Ragg, die er auch in dieser Produktion zu einer das Publikum rührenden und mit besonders heftigem Applaus bedenkenden machen kann. Ensemblemitglied Hubert Zapiór überzeugte als schockverliebter Anthony Hope, der einen sonoren Bariton für seine Liebeserklärungen einsetzen kann. Alma Sadé ist die liebliche Johanna Barker, Jens Larsen setzt eine imponierende Körperlichkeit und ebensolche Stimmreste für den verhassten Richter Turpin ein, während James Kryshak der ebenso unsympathische Beadle Bamford ist, Sigalit Feig obszön sein muss als Bettlerin und Ivan Turšiċ albern aufgeblasen als Adolfo Pirelli. Jede Figur, jeder Sänger hat seine Momente, darf sich profilieren und hat offensichtlich die volle Aufmerksamkeit der Regie genossen.
Und was ist das nun, was einen Abend lang gut unterhalten, zwischen Ekel und Mitleid hat hin- und herschwanken lassen? Ich würde für eine tragi-komische Oper plädieren.
Selbstverständlich war die Premiere, sind aber auch fast alle Folgevorstellungen ausverkauft.
Ingrid Wanja, 17. November 2024
Sweeney Todd
Stephen Sondheim
Komische Oper Berlin
Besuchte Premiere am 17. November 2024
Inszenierung: Barrie Kosky
Musikalische Leitung: James Gaffigan
Orchester und Chor der Komischen Oper Berlin