Berlin: „The Bassarids“, Hans Werner Henze

Premiere am 13.10.2019

Lustvolle Kargheit

In einem undatierten, aber auf jeden Fall nach 1968 zu vermutenden Interview meinte Hans Werner Henze: „ Das Ganze könnte gesehen werden als ein Weg in die Freiheit, als rauschhafte Befreiung von Menschen, die sich plötzlich selber entdecken…“ Dazu passt wenig, dass im Libretto von Wystan Hugh Auden und Chester Kallman zu des Komponisten Oper The Bassarids der den Rausch provozierende Gott Dionysus am Schluss bekennt, dass er das Volk von Theben nur deswegen in den schließlich auch den Tod des Königs Pentheus verursachenden Rausch getrieben hat, um den Tod seiner Mutter Semele und ihre Verbannung in den Hades zu rächen. Wenn man denn Partei ergreifen müsste zwischen dem Asketen Pentheus und dem Chaoten Dionysus, könnte man nicht ohne weiteres für den letzteren stimmen, auch wenn er die „schönere“, den Ohren angenehmere Musik auf seiner Seite hat, dem thebetanischen König eher harschere Klänge zugeordnet werden. Das Regieteam hat sich dazu entschlossen, den Saal, abgesehen von den letzten Augenblicken Musik, nicht zu verdunkeln, was den Zuschauer einerseits in das Geschehen mit einbezieht, andererseits aber auf den Sog, den eine beleuchtete Bühne auf den im Dunkel Sitzenden ausübt, verzichtet.

In der Komischen Oper erwartet man, gewitzt durch vielerlei Erfahrungen, viel Sinnenfreude, Erotik, Laszivität und Zweideutigkeit, und der Stoff böte eine Menge von Möglichkeiten dazu, ohne dass deren Nutzung dem Werk Gewalt antun würde. Was könnte man aus einem Bacchanal (Bacchus ist der römische Dionysus) mit tödlichem Ausgang alles machen! Aber zur Überraschung vieler erfahrener Operngänger hat Barrie Kosky eine ganz strenge, fast keusche, um nicht zu sagen angesichts des Geschehens prüde Inszenierung auf die Bühne der Komischen Oper gestellt, und von erigierten Penissen ist nur im Programmheft die Rede, auf der Bühne werden weder das Kleine Schwarze der Chordamen noch die Anzüge ebensolcher Farbe der Chorherren jemals abgelegt, bleibt auch das Ballett züchtig, wird Deftigkeit vermieden, wenn nicht das Haupt des Pentheus, sondern nur ein paar Haarsträhnen des Unglücklichen aus der Plastiktüte gefingert werden. Zu derartiger Enthaltsamkeit gehört mehr Mut als zu ohnehin bereits ausgereizten Ausschweifungen.

Wenn die Deutsche Oper ihre erste Saisonpremiere durch ein Übermaß an „modernen“ Regietheaterutensilien, die Staatsoper die ihre durch eine Verballhornung bürgerlichen Lebens in den Sand setzte, so triumphiert die Komische Oper mit einer sich an keine Tendenz anbiedernde, sondern streng aus dem Stück erwachsende, dem Zuschauer die Freiheit einer Urteilsbildung lassende Inszenierung.

Man benutzt die revidierte und reduzierte Fassung von 1992, allerdings mit dem von Henze verworfenen Intermezzo. Auf dem Besetzungszettel ist von der Originalfassung desselben die Rede, im Interview mit Regisseur und Dirigenten allerdings von einer Anpassung an die Neufassung. Trotzdem wurde es im Orchestergraben zu eng, so dass die Bläser auf der Bühne, weitere Instrumente im Zuschauerraum oder in den Logen postiert wurden.

Die Bühne von Katrin Lea Tag besteht aus einer riesigen Treppe in gedecktem Weiß, die oberen Proszeniumslogen werden in das Spiel mit einbezogen. Ihre Kostüme sind neben dem vorherrschenden schwarz durch ein rotes Innenfutter für den Anzug des Dionysus, gedecktes Blau für die Amme, Weiß für Agaue und Violett für Autonoe gekennzeichnet. Durch wilde Muster heben sich die Kostüme der Tänzer von denen des Chors ab. Dieser füllt seine tragende Rolle, verstärkt durch Vocalconsort Berlin, in gewohnter, ja sich vielleicht noch gesteigert habender Weise unter David Cavelius aus.

Vorzüglich sind die Solisten. Einen betörend schönen Tenor hat Sean Panikkar für den Dionysus, besonders wenn er aus dem Off tönt als Verheißung von Sinnenfreude und Freiheit. Die Partie ist irrsinnig anspruchsvoll, und so nimmt es nicht Wunder, dass die Stimme gegen Ende Ermüdungserscheinungen aufweist. Optisch passt der Sänger auch wegen seines exotischen Aussehens besonders gut in die Partie. Vokal die Stange hält ihm Ensemblemitglied Günter Papendell als Pentheus mit frischem, farbigem, Autorität ausstrahlendem Bariton.

Bereits in Salzburg zu hören war Tanja Ariane Baumgartner als Agave mit vollmundigem, exakt konturiertem Mezzosopran. Jens Larsen war nur optisch der hinfällige Cadmus, während sein Bass unangefochten Düsteres vermeldete. Tom Erik Lie war wie immer die pure Zuverlässigkeit als Hauptmann, Vera-Lotte Boecker mit flirrendem Sopran die Autonoe und Ivan Turŝić mit quäkendem Charaktertenor der zwielichtige Tiresias. Ein Erlebnis für sich war Margarita Nekrasova als gemütvolle Amme Beroe.

Bewundernswert ist, was Vladimir Jurowski am Dirigentenpult leistete, allein das Zusammenhalten aller weit verstreuten Orchestergruppen ist des Lobes wert, mehr aber noch die klare orchestrale Gegenüberstellung der beiden Welten der nüchternen Schroffheit und der gleißenden Verführung. Jubel belohnte alle Mitwirkenden- ein Triumph, den man sich verdient hatte!

Fotos Monika Rittershaus

14.10.2019 Ingrid Wanja