Berlin: „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“, Moritz Eggert

Uraufführung am 5.5.2019

Extrem verfremdet

Am Schluss des Films M-eine Stadt sucht einen Mörder von Fritz Lang fällt der Blick des Zuschauers auf drei tief in Schwarz gehüllte Frauen, die Mütter der ermordeten Kinder, und er bekommt zumindest eine Ahnung davon, welch unfassbares Leid der Verlust eines Kindes, noch dazu auf so grässliche Weise, bedeutet. Am Schluss der Oper von Moritz Eggert, die den größten Teil des Drehbuchs zum Libretto gewählt hat, hüpft ein kleines Mädchen fröhlich auf der Bühne umher und gibt so dem Zuschauer die Möglichkeit, das gesamte Geschehen für ein Hirngespinst des „Mörders“, der vielleicht nur in seiner Einbildung ein solcher ist, zu halten.

Gestützt wird diese Annahme dadurch, dass die Personen des Films, ob Elsies Mutter und ihre Nachbarn, die Polizei, die Stammtischbrüder, die Ganoven und sogar der Blinde bizarre Figuren sind, deren oft fratzenhafte Vinylköpfe auf Kinderkörpern thronen. Ihre Stimmen kommen aus dem Orchestergraben und gehören Absolventen oder Studenten der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, die leider teilweise in keiner Hinsicht mit denen des Films mithalten können, allein der Vergleich des Sprechers für den Schränker, den Gustav Gründgens spielte, mit dem berühmten Schauspieler ist enttäuschend, ihm wie vielen seiner Kollegen fehlt es an Sprechkultur, vieles mag Absicht sein, so dass sie wie Karikaturen ihrer Vorgänger wirken, wozu noch kommt, dass die meisten Kinder über ein, zwei Gesten nicht hinauskommen, man mehr von ihnen auch nicht verlangen kann. Da abzusehen war, dass eine mit dem Vorbild vergleichbare Besetzung nicht verfügbar sein konnte, wählte man wohl den Weg in die Karikatur, ließ letztendlich nur dem Mörder die natürliche Menschengestalt, dazu noch die Omnipräsenz und die Stimme, die er singend wie sprechend, und das nicht immer textsicher, einsetzen kann.

Dazu ist er auch optisch ein ansehnlicher Mann und scheint so allen anderen überlegen zu sein. Der Streit der Zeugen darum, ob die Mütze des ermordeten Mädchens rot oder grün gewesen sei, führt in der Oper zu immerhin einem Anhaltspunkt dafür, dass es sich doch um den Mörder handelt, denn er räufelt ein Stück roten Stoffs auf und verschlingt die Fäden ineinander. Das Drehbuch wurde leicht gekürzt, dafür wurden Chansons von Walter Mehring und Kinderlieder in die Handlung eingefügt, auch „Warte, warte nur ein Weilchen“ darf nicht fehlen. Da es nicht nur dem phantastischen Kinderchor ( Dagmar Fiebach) obliegt, diese zu singen, sondern auch dem M und die Texte teilweise intellektuell sehr anspruchsvoll sind, fügen die Librettisten Barrie Koskie, der auch Regie führt, und Ulrich Lenz dem doch eher naiven, getriebenen M eine weitere, über den Film hinausgehende Dimension hinzu. Da seine Gesangsnummern jeweils von einem der Mitwirkenden angekündigt werden, wird er noch weiter aus der Handlung herausgehoben. Im Unterschied zur herkömmlichen Oper, wo oft der Gesang erst mit dem Überkochen der Emotionen einsetzt, verfällt M in Sprechgesang, wenn die Gefühle sich besonders heftig äußern sollen.

Zwar gibt es drei Sänger, aber nur der Mörder hat die des amerikanischen Baritons Scott Hendricks, eine markante, farbige Stimme, und auch darstellerisch ist der Sänger, der einen Teil seiner Partie spricht, ein Gewinn, während aus dem Orchestergraben die klare, frische Mädchenstimme von Alma Sadé und der lyrische Tenor von Tansel Akzeybek zu vernehmen sind.

Teile der Musik von Moritz Eggert hätten auch zur Filmmusik des Langschen Streifens werden können, sie schafft eine dichte Atmosphäre, nicht zuletzt, aber nicht nur durch den Einsatz von Lautsprechern auch im Zuschauerraum. Neben den herkömmlichen Instrumenten werden zur Erzeugung eines modernen Klangs Instrumente wie Keyboards, E-Gitarre oder Synthesizer-Sampler eingesetzt, die Stimmen manchmal elektronisch verfremdet. Ainǎrs Rubikis leitete souverän den ungewöhnlichen Orchesterapparat.

Ist die Bühne fast durchweg in Schwarz-Weiß gehalten, weil es sich bei M um einen Schwarz-Weiß-Film handelte? Klaus Grünberg stellt ein schwarzes Podest auf die weiße Bühne. Auf diesem werden Häuserwände oder Büros, beides mit unendlich vielen Türen, hin- und hergeschoben. Eine weitere Spielfläche ist unter dem Podest, so dass ausreichend Platz für Kinderkomparserie oder Kinderchor ist. Gar nicht genug bewundern kann man die Masken für die Kinder, die von Tobias Barthel stammen. Insgesamt interessiert man sich weit mehr für das Wie als das Was, und wenn man sich fragt, ob es ein Fehler war, sich wenige Stunden vor der Premiere noch einmal den Film von Fritz Lang angesehen zu haben, fällt die Antwort leicht: Ohne diese Auffrischung hätte man die Oper wahrscheinlich gar nicht verstanden, aber der Film erweist sich zugleich als übermächtig gegenüber der Oper, deren Schöpfer glücklicherweise gar nicht erst versucht haben, mit realistischen Mitteln mit ihm zu konkurrieren, sondern sich zurecht entschlossen, den Weg der extremen Verfremdung zu gehen.

Fotos Monika Rittershaus

5.5.2019 Ingrid Wanja