Die Nordwestdeutsche Philharmonie müsste eigentlich Ostwestfälische Philharmonie heißen, denn in diesem Teil Nordrhein-Westfalens, genaugenommen in Herford, ist sie beheimatet und bespielt hauptsächlich das dicht besiedelte Dreieck zwischen Minden, Paderborn und Gütersloh. In letztgenannter Stadt hatte der Rezensent dieses Orchester schon mehrfach gehört und war regelmäßig beeindruckt von seiner hohen Spielkultur, gut ausgewogenem Klang und engagiertem Musizieren, zuletzt bei mitreißenden Aufführungen von Sinfonien von Haydn (Nr. 104), Mahler (Nr. 6), Sibelius (Nr. 1) und Schostakowitsch (Nr. 8). Auch hochtalentierte Solisten am Beginn einer großen Karriere sind immer wieder zu hören – gehörte doch auch zu den Chefdirigenten einstmals ein gewisser Andris Nelsons.
Zu Beginn der aktuellen Konzertreihe unter der Leitung der französischen Gastdirigentin Lucie Leguay begab sich der Rezensent ins eher kleine, fast 110 Jahre alte Parktheater von Bad Oeynhausen. Angekündigt war mit Mozarts Klarinettenkonzert in A-Dur KV622 und der Symphonie in B-Dur op. 20 von Ernest Chausson ein recht kurzes Programm, doch die Anreise hat sich auf jeden Fall gelohnt. Solist des Abends war Vitor Fernandes, ein hochgewachsener, schlanker Portugiese, der schon Masterclasses auf der gesamten nördlichen Erdhalbkugel gibt. Er beherrschte sein Instrument wahrhaft meisterlich, spielte mit einem warmen, gesanglichen Ton gleichbleibend über alle Register und brachte die Seele des Mozart-Konzertes zum Vorschein.
Das Orchester war ein gefühlvoller Partner, die Streicher leuchteten seidig in den begleitenden Passagen und waren kraftvoll und füllig dort, wo sie die Stimme führten. Atemberaubend für den Hörer war im langsamen Satz die Wiederholung des ersten Teils, bei dem Solist und Streicher sich ganz vorsichtig an das Thema herantasteten, um dann noch einmal aufzutrumpfen, bevor der Satz ins Nichts entschwebte. Im abschließenden Rondo warfen sich Solist und Orchester munter die Bälle zu, wobei, wie schon zuvor, eine auffällig verständnisvolle Kommunikation zwischen Solist und Dirigentin zu beobachten war, überspielten nicht die Stimmungswechsel und hielten den Satz in einem konstanten Fluss. Der lange Applaus des Publikums war verdient!
Das Parktheater scheint nur begrenzte Räumlichkeiten hinter der Bühne zu haben, denn während der Pause waren einige Orchestermusiker auf der Bühne dabei zu beobachten, wie sie sich einspielten, und zwar mit ihren Instrumentalpartnern, was von hohem Verantwortungsbewusstsein zeugte. Danach füllte sich die Bühne unter anderem mit zwei Harfen und vier Trompeten (scheint Standard für französische Musik seit Berlioz zu sein) für eine echte Rarität, die Symphonie von Ernest Chausson (1855-1899). Sie erlebte ihre Uraufführung 1890 in Paris und wurde bald darauf in Berlin unter Arthur Nikisch gespielt, was ihr zum Durchbruch verhalf. In ihrer dreisätzigen Form mit langsamer Einleitung lehnt sie sich an die Symphonie in d-moll von César Franck an, aber das und die Besetzung sind die einzigen Gemeinsamkeiten. Chausson hat eine eigene Musiksprache, was sowohl die Themenbildung als auch ihre Verarbeitung betrifft.
Trotz der Zuneigung zu Richard Wagner, die sich manchen Steigerungen zu wuchtigen Tutti, rezitativartigen Passagen oder dem ungewöhnlich ruhigen Ende zeigt, ist die Musik unverkennbar französisch in ihrer ökonomischen Eleganz. Hier war Lucie Leguay ganzin ihrem Element. Ohne Taktstock, aber mit ausladenden Gesten und gebärdenden Händen sowie viel Blickkontakt – sie hatte die Partitur zwar auf dem Pult, aber hauptsächlich im Kopf – formte sie das Werk mit dem Orchester, erzeugte einen üppigen, hell leuchtenden Streicherklang, band die klaren Holzbläser deutlich in den Ablauf ein, ließ das Solohorn singen und die Blechbläser strahlen. Am Ende zeigte das Publikum mit langanhaltendem Applaus seine Begeisterung für die dieses seltene Hörerlebnis. Von einer irgendwie gearteten Provinzialität war an diesem Abend nichts zu spüren.
Für den Rezensenten war dies das dritte Sinfoniekonzert, das er in der laufenden Saison besuchte. Und jedes Mal stand eine Frau am Pult. Für manche Zeitgenossen scheint dies noch eine Sensation zu sein, doch für ihn war das nur Zufall und das Programm jeweils der Anlass für den Konzertbesuch. Und auch heute Abend hätte es keinen Unterschied gemacht, ob eine Frau, ein Mann oder irgendjemand dazwischen vor dem Orchester stand. Bis auf die letzte Geste, als nämlich Lucie Leguay den ihr zugedachten Blumenstrauß an die Spielerin der ersten Trompete weiterreichte, um zu demonstrieren, dass die letzten Männerbastionen in der klassischen Musik hoffentlich endgültig gefallen sind.
Bernhard Stoelzel, 2. Dezember 2024
Ernest Chausson: Symphonie in B-Dur op. 20
Wolfgang Amadeus Mozart: Klarinettenkonzert in A-Dur KV622
César Franck: Symphonie in d-moll
Parktheater Bad Oeynhausen
Konzert am 1. Dezember 2024
Solist: Vitor Fernandes
Gastdirigentin Lucie Leguay
Nordwestdeutsche Philharmonie