Bonn, Konzert: „Schostakowisch 10.“, unter Dirk Kaftan

Dmitrij Schostakowitsch ist einer der wenigen Komponisten, die eine 10. Sinfonie komponiert haben. Am 5. März 1953 starb Stalin, und kurz darauf begann Schostakowitsch, neun Jahre nach seiner 9., mit seiner Arbeit an seiner 10. Sinfonie in e-moll. Er hatte die Hoffnung, dass die Macht von Stalins Kulturpolizei gebrochen sei. Ein halbes Jahr nach der Uraufführung musste sich Schostakowitsch jedoch dem „Rat der Union der sowjetischen Komponisten“ stellen. Man bewertete die 10. als „optimistische Tragödie“.

Mit den „Freitagskonzerten“, die zum Teil am folgenden Sonntag am 11.00 Uhr als „Konzert im Spiegel“ mit einem Gesprächspartner (diesmal Wladimir Kaminer) wiederholt werden, stellt das Beethovenorchester die Grundversorgung der Bonner mit sinfonischer Musik sicher. Dirk Kaftan und das Beethoven-Orchester haben nach der Oper „Sibirien“ des Italieners Umberto Giordano, der russische Motive in einer italienischen veristischen Oper verwendet, nun osteuropäische Komponisten auf dem Programm, die aus eigener Anschauung Schlaglichter auf das Wesen der ehemaligen Sowjetunion werfen.

© Tilmann Böttcher

Kernstück des Programms ist die 10. Sinfonie von Dmitrij Schostakowitsch, die auch am Sonntag gespielt wurde. Sinfonien haben, auch wenn sie keine Programmmusik sind, einen dramatischen Aufbau. Der erste Satz – länger als die drei anderen zusammen – beschreibt in einer eindrucksvollen Steigerung, die in ein Tutti-Crescendo mündet, den Aufschrei der leidenden Menschen, die immer wieder neu aufbegehren, aber schließlich ein einem resignierenden Duett zweier Piccoloflöten mit einem erlöschenden e-moll enden. Zwar behauptete Schostakowitsch, diese Sinfonie habe kein Programm, aber er hat dort nach einer eigenen Aussage im zweiten Satz in einem hektischen Marsch eine Karikatur Stalins komponiert, für mich das Zerrbild eines irren Diktators und Ursache des Übels.

Der dritte Satz ist eher meditativ und verwendet das Motiv „D-Es-C-H“ als Signatur. Nach der Resignation des dritten Satzes wirkt der vierte Satz wie ein Aufruf zum Widerstand, der in einem wilden Schlussgalopp endet. Musikalisch knüpft Schostakowitsch an Gustav Mahler an, der 1910 in seiner 9. Sinfonie seinen eigenen Tod komponierte und die Grenzen der Tonalität überschritt. Die Musikzensur der Stalin-Zeit setzte Schostakowitsch derart unter Druck, dass er jahrelang mit einem gepackten Koffer unterm Bett geschlafen haben soll, weil er fürchtete, vom Geheimdienst abgeholt zu werden. Während Alban Berg, Anton Webern und Arnold Schönberg Zwölftonmusik komponierten, die die Tonalität überwinden sollte und die in der Stalin-Ära verboten war, schuf Schostakowitsch spätromantische Musik mit sarkastischen Zügen, weil er sich nicht mit dem totalitären System anlegen wollte.

Mit den temperamentvollen „Tänzen aus Galanta“ von Zoltán Kodály eröffnete sich ein authentischer Blick auf ungarische Musik. Kodaly ist immer in Ungarn geblieben und hat die Volkslieder und Tänze seiner Heimat aufgezeichnet und in einem Konzertstück von 16 Minuten verdichtet.

Der 1919 in Polen geborene Mieczysław Weinberg, der 1996 verstarb, hinterließ ein beeindruckendes Werk, unter anderem eine Oper, „Die Passagierin“, die sich um Ereignisse im Vernichtungslager Auschwitz dreht, 1968 geschrieben, und 2010 bei den Bregenzer Festspielen mit großem Erfolg szenisch uraufgeführt. Weinbergs Familie wurde von den Nationalsozialisten ermordet, er selbst konnte 1939 nach Minsk fliehen. Er war mit Schostakowitsch eng befreundet.

Das Konzert für Trompete und Orchester, das er 1967 für den Solotrompeter des Bolschoi-Theaters, Timofei Dokschizer, schrieb, ist eine Steilvorlage für die 1998 geborene Trompeterin Selina Ott. Die junge Österreicherin hat 2018 als erste Frau in der Geschichte des ARD-Wettbewerbs den 1. Preis in der Kategorie Trompete gewonnen und ist mit Weinbergs Trompetenkonzert mit zahlreichen Spitzenorchestern aufgetreten, unter anderem vor der Pandemie mit dem WDR-Sinfonieorchester. 2021 folgte der OPUS Klassik Preis für ihr Debut-Album „Trumpet Concertos“. Das Konzert von Weinberg spielte sie 2022 mit Dirk Kaftan und dem Wiener ORF-Radio-Sinfonieorchester auf CD ein. Das Konzert ist ein Parforceritt durch alle Finessen der Kunst: der erste Satz „Etüden“ entwickelt sich aus Übungsfetzen von Tonleitern, die einen zirkushaften Drive entwickeln, der zweite Satz „Episoden“ beglückt mit einem überirdisch schönen liedhaften Motiv, und der dritte Satz: „Fanfaren“, eine Collage verschiedener Trompetenthemen, endet nach skelettartigen Walzerklängen in einem abrupten Schluss. Selina Ott und Dirk Kaftan werden das Konzert am 12. Mai 2023 um 11.00 Uhr noch einmal in einem Schulkonzert: „There was no hope“ zum Gedenken an den Aufstand im Warschauer Ghetto spielen, der vor 80 Jahren stattfand. Das Beethoven-Orchester hat eine hervorragende Konzertpädagogik und eine auf schulische Abläufe zugeschnittene Termin – und Eintrittspreisgestaltung.

© Tilmann Böttcher

Kaftan und Ott waren absolut souveräne Interpreten. Das Beethoven-Orchester, das neben seinen Verpflichtungen in der Oper, wo es alles von Händel bis Weill spielt, in Sinfoniekonzerten und auch in Crossover-Konzerten mit lokalen Bands wie Brings auftritt, die umgehend ausverkauft sind, ist fest in der Bonner Stadtgesellschaft verankert. Die Interpretation der drei Stücke war überzeugend, wofür schon Kaftans Dirigat sorgte. Beim Trompetenkonzert waren Dirigent und Solistin der Fels in der Brandung, aber die Orchesterstimmen konnten mithalten.

Dirk Kaftan widmete die 10. Sinfonie von Schostakowitsch dem am 27. Februar 2023 nach schwerer Krankheit verstorbenen Andreas Marner, der 30 Jahre lang Kontrabass im Beethoven-Orchester gespielt hat. Besser konnte es nicht passen, denn die tiefen Streicher, vor allem die Kontrabässe, eröffneten ein spätromantisches Drama mit präzisem Rhythmus, klar akzentuierten Strukturen und superben solistischen Einzelleistungen.

Ursula Hartlapp-Lindemeyer 22. März 2023

Besonderer Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN


Theater Bonn

17. März 2023

Dirigat: Dirk Kaftan

Selina Ott, Solotrompete

Beethovenorchester Bonn