Wie oft erlebt man so etwas schon bei einem Konzert im Münchner Herkulessaal mit einem Programm aus der klassischen Moderne? Rhythmisch wippende Köpfe, Knie und Füße, die sich im raschen Takt auf und ab bewegen, und das sowohl bei den Mitwirkenden auf der Bühne als auch im Publikum!
Erleben konnte man das am 3. Oktober 2024 mit Simon Rattle und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und einer überraschenden Mischung, was einerseits die Auswahl der Stücke, andererseits die Instrumentierung und in einem Falle die Interpretation eines Genres betraf – oder hatte man zuvor daran gedacht, bei einer Passionsmusik mit feurigen Rhythmen am liebsten mittanzen zu wollen?
Doch der Reihe nach: Manuel de Fallas Dreispitz gehört sicher zu den Stücken, die auch dem breiten Publikum im besten Sinne spanisch vorkommen. Ebenso wie seine Nächte in spanischen Gärten vermittelt diese Musik ein unwiderstehliches Lokalkolorit; sie schafft es, in den Zuhörern in kürzester Zeit eine körperlich wahrnehmbare Sehnsucht nach Sonne, Tanz und spanischer Lebensfreude aufsteigen zu lassen. Das mag reichlich nach Klischee klingen, aber wenn dieser Españolismo so klangfarbig illustriert wird, wie es Rattle und den Münchnern gelang, dann ist das schlichtweg grandios.
Gerade an diesem naßkalten Oktoberabend tat es wohl, zumindest im Inneren die Wärme und Leidenschaft zu spüren, die de Fallas Komposition durchflutet; die dörflich-volkstümliche Handlung des Balletts ist da eher zweitrangig, weil diese Musik durch ihre reizvollen Wendungen, die volksmusikalischen Aspekte mit den Tanzrhythmen und einer Erweiterung des Instrumentariums durch Kastagnetten und Händeklatschen sofort in die Seele dringt.
Schloß man die Augen, entstand der Eindruck, sich, umgeben von duftenden Oleandersträuchern, in einem der Höfe der Alhambra zu befinden, so authentisch gestaltete das Orchester unter Simon Rattle die Bühnenmusik. In seiner zugewandten, sympathischen Art hielt der Dirigent durchweg intensivsten Kontakt zum Orchester, dessen Mitwirkende größte Spielfreude zeigten – eine Kennerin des Klangkörpers bemerkte, „so fröhlich schauen die unter anderen Dirigenten nicht!“. Ein Herr aus dem Publikum meinte, dies sei eben kein Tyrann, sondern Rattle lebe für die Musik und mit dem Orchester.
Dies ergänzte elegant und mit dem stolzen Habitus einer Andalusierin Rinat Shaham, die die Einleitung und den Tanz des Müllers mit warmem Mezzosopran und Fülle sang. Der Rezensent enthält sich normalerweise der Schilderung von Gewandung, aber ihr blutrotes Kleid paßte wundervoll in die spanische Atmosphäre. Hier stimmte tatsächlich alles, bestätigt durch begeisterten Applaus, in den sich laute „Olé“-Rufe mischten.
Das Lullaby, also ein Wiegenlied von Xavier Montsalvatge, schenkte die Sängerin als Zugabe, aber in seiner sinnlichen Wärme taugte dieses kurze Stück nicht als Einschlafhilfe, sondern entließ das Publikum beseelt in die Pause, mit spannungsgeladener Erwartung in Hinblick auf den zweiten Teil – sämtlich mit Stücken, die hier zum ersten Mal erklangen.
Strawinskys Ebony Concerto für Klarinette und Jazz-Ensemble trägt seinen Namen nicht wegen des Ebenholzes der Instrumente, sondern versteht sich als würdigende Reminiszenz an das „Schwarze“ in ebenjener Musik, die der Komponist in den USA kennen und schätzen lernte. Trotz seiner für Strawinsky typischen Sprödigkeit und des rhythmisch anspruchsvollen, unruhigen Duktus ist das Werk auch wegen der Instrumentierung eingängig; es ist ein bißchen so, als hätte auf dem Plakat der Uraufführung 1946 gestanden „Tonight: Igor in the Jazz Club“. Mitunter klingt etwas von der archaischen Tanzrhythmik seines Sacre du Printemps an, was dem Ganzen eine unterschwellig erotisch aufgeladene Lebendigkeit verleiht. Christopher Patrick Corbetts Klarinettenspiel gab dem Stück eine jazzige Note und auch bei diesem virtuos spielenden Musiker fiel auf, wie die Musik von ihm leiblichen Besitz ergriff und er zunehmend „swing-like“ spielte.
Die Überraschung des Abends war in jedem Falle Nazareno für zwei Klaviere und Orchester von Osvaldo Golijov aus dem Jahr 2009 und man mag sich schon angesichts des Entstehungshintergrundes des Stückes kaum mehr wundern, daß da der Teil einer Passion in völlig ungewohntem Klangkleid erschien. Es ist das Auftragswerk für einen jüdischen Komponisten, der die christliche Kerngeschichte aus dem Blick eines Lateinamerikaners erzählt. Jesus ist für Golijov ein Schwarzer und die Passion findet nicht auf der via dolorosa statt; sie greift auf Rhythmen zurück, die afrikanische Sklaven nach Südamerika gebracht haben, spielt mit Guaracha-, Mambo und Samba-Tänzen und wartet vor allem mit einem Schlagwerk-Instrumentarium auf, das die ganze Copa Cabana-Lebenslust in voller Farbigkeit zum Klingen bringt.
Gonzalo Grau, der das Arrangement besorgte, und Raphaël Séguinier spielten die unterschiedlichen Trommeln, das Streichinstrument Berimbau und andere Instrumente, die für die argentinische, brasilianische und kubanische Klangwelt so typisch sind. Offengestanden: An die Passion Christi dachte wohl kaum ein Zuhörer nach wenigen Takten und das engagierte, synkopenreiche Spiel der Pianistinnen Katia und Marielle Labèque ließ erst recht keine Karfreitagsstimmung aufkommen; eher dachte so mancher an die sonnenglut-durchströmte Musik aus dem kubanischen „Buena Vista Social Club“-Musikprojekt von Ry Cooder und Juan de Marcos González.
Momente des Innehaltens strukturieren das mitreißende Werk, es gibt zuweilen lyrisch-wehmütige Sequenzen und jähe Abbrüche; die dynamische Zurückgenommenheit wird aber stets durch ein Vorpreschen abgelöst, alles mündet schließlich in ein Fest des Lebens. Die Kreuztragung ist hier ein tänzerischer Karnevalsumzug, in dem sich christliche Glaubensvorstellungen fast kaum mehr wahrnehmbar im großen lateinamerikanischen Schmelztiegel der Religionen und Musikstile vermengen, die den Tod lebensfroh feiern und ihm dadurch den Schrecken nehmen. Die bunt gekleideten Skelette des mexikanischen „Dia des los muertos“ hätten hier das klapprige Tanzbein geschwungen!
Wie nahe sich musikalisch Strawinksy und Leonard Bernstein in den 40er Jahren standen, zeigt sich im Prelude, Fugue and Riffs für Klarinette und Jazz-Ensemble schon in der Instrumentierung, aber auch in der eigenwilligen Rhythmik mit ihrem Stolpern, Schubsen und tänzerischem Weitertreiben – man ist manchmal an die Echternacher Springprozession erinnert. Das Stück aus dem Jahr 1949 ist gleichermaßen die Fortführung Strawinskys mit Bernstein´schen Mitteln und das souveräne Spiel des Klarinettisten Stefan Schilling griff mit lässiger Konzentration die Blues- und Jazz-Elemente auf, die so typisch für die amerikanische Musik sind, die sich ja eigentlich erst mit der klassischen Moderne zu definieren und von den europäischen Vorbildern zu emanzipieren begann. George Gerswhin und Leonard Bernstein haben dem nordamerikanischen Kontinent erst die musikalische Eigensprache verliehen, die ohne die schwarzen Wurzeln so nicht existieren würde: „Hier muß das wahre Fundament jeder ernsthaften und eigenständigen Kompositionsschule liegen, die in den Vereinigten Staaten entwickelt werden soll…Im gesamten Bereich der Komposition gibt es nichts, was sich nicht aus den Themen dieser Quelle schöpfen ließe“. So sagte es 1893 einer voraus, der sich ganz ohne Vorurteile und voller Begeisterung mit der afroamerikanischen Musik auseinandersetzte: Antonín Dvořák.
Daß die Vermengung unterschiedlicher Musikrichtungen, Ethnien und Ideen erst zu tatsächlichen kulturellen Entwicklungen führt, bewies dieses berauschende Konzert. Und daß dies auch beim Publikum angekommen war, daran ließ der langanhaltende, tosende Beifall keinen Zweifel. Mit einem Glas Wein und gestischem „Prosit!“ verabschiedete sich Sir Simon schließlich vom begeisterten Publikum.
Andreas Ströbl, 6. Oktober 2024
Manuel de Falla, El sombrero de tres picos
Igor Strawinsky, Ebony Concerto
Osvaldo Golijov, Nazareno
Leonard Bernstein, Prelude, Fugue and Riffs
Herkulessaal München
3. Oktober 2024
Musikalische Leitung: Simon Rattle
Klavier: Katia und Marielle Labèque
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks