Angekündigt war das Konzert der Philharmonie Südwestfalen im Apollo-Theater Siegen als Sinfoniekonzert, aber man erlebte Oper pur mit zwei Ouvertüren (Holländer und Macht des Schicksals), Vorspielen zum 3. Akt der „Meistersinger“ und zum 3. Akt des „Lohengrin“ und sieben großartigen Opernszenen, in denen der Heldenbariton Aris Argiris, begleitet vom Landesorchester unter Neil Varon, Drama pur entfesselte. Wer die Opern kannte, sah, dass es Schlüsselszenen waren, wer sie nicht kannte, hörte hochdramatische Musik. (
Der in Athen geborene Aris Argiris begann seine Karriere 1999 als Ensemblemitglied unter anderem in Gelsenkirchen, Bonn und Frankfurt bis 2011. Dann wurde er freiberuflich tätig, und ich habe ihn als Rigoletto in Gelsenkirchen, als Wotan (Rheingold) in Braunschweig und als Jago in Darmstadt erleben können, kenne ihn also als Darsteller in den kompletten Opern. Seit 2016 ist Argiris Professor für Gesang an der Universität der Künste in Berlin.
Die Philharmonie Südwestfalen, ehemals Siegerland-Orchester, trägt seit 1992 den Titel „Landesorchester“ und gastiert in verschiedenen Städten der Region. Der ehemalige Chefdirigent Neil Varon, offensichtlich ein sehr erfahrener Operndirigent, begann das Konzert mit der hinreißenden Ouvertüre zum „Fliegenden Holländer“ – ein fulminanter Auftakt. Es folgte: „Oh, du mein holder Abendstern“ aus Tannhäuser, die Szene, in der Wolfram, der Elisabeth liebt, erkennen muss, dass sein Freund Tannhäuser sie mit seinem Verhalten tödlich gekränkt hat. Wolfram von Eschenbach ist ein sehr geradliniger Charakter, der an die hohe Minne glaubt. Vielleicht ist er zu gut für diese Welt. Aris Argiris sang erlesene Melodiebögen mit kultiviertem Legato.
„Abendlich strahlt“ kommentiert den Einzug der Götter in Walhall. Wotan, der Göttervater, ist ein ambivalenter Charakter. Er ist als Gott an Verträge gebunden, sind doch die Gesetze in seinen Speer geritzt, und Argiris besitzt die Ausstrahlung eines Herrschers, der seinen Stolz über die erfolgreiche Fertigstellung und Finanzierung Walhalls entsprechend zu zeigen weiß: „Folge mir, Frau, in Walhall wohne mit mir.“ Man denkt: „alles richtig gemacht“, aber der magische Ring, der Macht verleiht dem, der ihn trägt, ist in den Händen Fafners, und man hat das Gold zur Bezahlung der Erbauer Walhalls den Rheintöchtern geraubt – ein klarer Fall von Verdrängung. Aris gab den dominanten Herrn Walhalls mit volltönendem Heldenbariton.
Im Vorspiel zum 3. Akt der „Meistersinger“ konzentriert sich Wagners Melancholie über die Verrücktheit der Welt und die Wirren der Verliebtheit. Sachs wird Eva entsagen, damit sie ihr Glück mit Stolzing findet.
Rigoletto ist der bucklige Hofnarr des Herzogs von Mantua, der dessen erotische Eskapaden organisiert und zynisch kommentiert. Als er den Grafen Monterone verspottet, weil der Herzog dessen Tochter geschändet hat, verflucht ihn der Graf. Rigolettos geliebte Tochter Gilda wird von der Hofgesellschaft entführt und vom Herzog missbraucht. Am anderen Morgen sucht Rigoletto Klarheit bei der Hofgesellschaft: „Cortigiani vil razza damnata“ ist die Arie, in der Rigoletto die Höflinge beschimpft, dann aber um Gnade für sich und Gilda bittet. Er möchte seine Tochter zurückhaben und fleht die Hofgesellschaft um Hilfe an. Die Gefühle des liebenden Vaters, der seine Tochter nicht vor der lüsternen Hofgesellschaft schützen konnte, wusste Aris mitreißend zu gestalten. Eine beeindruckende Charakterstudie!
Mit Posas Sterbearie: „O Carlo ascolta … io moro“ verabschiedet sich der politische Idealist Marquis Posa nach seiner Erschießung durch die Inquisition im Gefängnis sterbend von seinem Freund, dem Thronfolger Carlos, und vom Leben. Aris spielte das wie in der Oper auch szenisch und gestisch überzeugend.
Emotionaler Höhepunkt der „Walküre“ ist Wotans Abschied: „Leb wohl Du kühnes, herrliches Kind,“ von seiner ungehorsamen Tochter Brünhilde, die genau das tun wollte, was er selbst gern getan hätte, aber aus Gründen der Staatsräson nicht zulassen durfte: seinen Sohn Siegmund im Kampf gegen Hunding, Sieglindes Mann, unterstützen. Zur Strafe für ihren Ungehorsam setzt er sie auf einem Felsen aus und umgibt sie mit einem Ring aus Feuer, den nur ein Furchtloser – Siegfried – überwinden kann. Der Kummer des Vaters, der sein Lieblingskind strafen muss, ist groß. Wie er seine Liebe zu seiner Lieblingstochter zum Ausdruck bringt, ist magisch. Noch tragischer seine Resignation als Gott, der sein Ziel, den Ring zu erlangen, nicht erreichen wird. Besonders ergreifend waren die leisen Töne und die hervorragende akzentfreie Textverständlichkeit.
Verdis Ouvertüre zur „Macht des Schicksals“ mit den Fanfaren, die andeuten, dass der einzelne kaum einen Einfluss auf schicksalhafte Verstrickungen nehmen kann, begeisterte auf der ganzen Linie.
Der Holländer ist ein typischer „Byronscher Held“, ein Antiheld, auf dem ein Fluch liegt. Nur durch die Liebe einer Frau, die ihm treu bis in den Tod ist, kann er erlöst werden und endlich sterben. Senta verfällt seiner Faszination und geht mit ihm in den Tod. Im Auftrittsmonolog erzählt er im Grunde die ganze Oper: „Dann dröhnt er, der Vernichtungsschlag, bei dem die Welt zusammenkracht!“. Die Stimme ist in der Tat sehr groß, und für den Holländer bestens geeignet.
Das Vorspiel zum 3. Akt Lohengrin ist die Einleitung zur großen Enttäuschung: Elsa kann Lohengrins Frageverbot nicht einhalten, und der als „Schützer von Brabant“ gefeierte Lohengrin muss zum Gral heimkehren.
Der absolut nihilistischste Charakter ist Jago. Er treibt durch eine klug eingefädelte Eifersuchtsintrige den Feldherrn Otello in den Femizid an seiner Frau Desdemona. Jago ist zutiefst agnostisch und pervertiert das christliche Glaubensbekenntnis zu einer zynischen Negation jeglicher Spiritualität: „Credo in un dio Crudel“. Wie Aris den skrupellosen Intriganten und Genussmenschen ohne Gewissen charakterisiert, hat mich schon in Darmstadt beeindruckt.
Neil Varon ist ein erfahrener Operndirigent, und er hatte die Philharmonie Südwestfalen sehr gut im Griff. Die Stimme des Sängers ist so groß und gut geführt, dass er auch laute Orchesterpassagen scheinbar mühelos überstrahlte. Wenn man so ein großes Orchester hinter sich hat, ist es besonders schwer, sich als Sänger durchzusetzen, aber die Befürchtung Aris Argiris´, das Orchester sei zu laut, erfüllte sich nicht. Er hat mit ungeheurer Bühnenpräsenz die dramatischen Szenen gestaltet und sein Publikum zu stehenden Ovationen hingerissen.
Wenn ich mich für einen der Komponisten entscheiden müsste, wüsste ich nicht, wem ich den Vorzug geben sollte. Verdis Musik ist eingängiger und geht dramaturgisch mitunter von haarsträubenden Unwahrscheinlichkeiten aus, wobei schicksalhafte Verstrickungen zur Handlung gehören. Die Arien sind sehr emotional, die Instrumentierung, die Chöre und vor allem die Ensembles, sind, gerade beim späten Verdi, sehr verdichtet. Wagner dagegen glaubt an so etwas wie Erlösung und konstruiert, vor allem im „Ring des Nibelungen“, den dramatischen Konflikt, der daraus entsteht, dass Wotan, der Gott, eben nicht vom Schicksal herausgefordert wird, sondern das haben will, was Alberich besitzt: den Ring, der ewige Macht verleiht. Im wahren Leben ist Wotan an Verträge gebunden und kann nicht frei handeln. Auch der Holländer hat seinen Fluch selbst provoziert, indem er Gott gelästert hat.
Für mich war es ein erfüllender Abend mit Kernszenen aus Lieblingsopern, die auch ohne szenische Umsetzung funktioniert haben.
Ursula Hartlapp-Lindemeyer, 6. November 2024
Dank an unsere Freunde und Kooperationspartner vom OPERNMAGAZIN
Aris Agiris
Berühmte Opernarien
Apollo Theater Siegen
31. Oktober 2024
Dirigat: Neil Varon
Philharmonie Südwestfalen