Dortmund: „Il pirata“, Vincenzo Bellini

Klangvokal Musikfestival

Hart getroffen durch die Pandemie ist das jährlich in Dortmund stattfindende Klangvokal Musikfestival, da hier im Sommer sehr viel Chormusik aufgeführt wurde. Der Höhepunkt, das Fest der Chöre, bei dem mehr als hundert Liebhaber-Chöre aus allen Teilen Dortmunds und Umgebung an verschiedenen Orten der Stadt auftraten, mußte nun schon zum zweiten Mal abgesagt werden.

Stattfinden konnte in diesem Jahr die übliche konzertante Aufführung einer weitgehend unbekannten Oper, wieder unter der musikalischen Leitung von Friedrich Haider. Nach den doch häufiger aufgeführten „Perlenfischern“ von Bizet vor zwei Jahren folgte in diesem Jahr das Melodramma in zwei Akten „il pirata“ von Vincenzo Bellini, 1827 an der Mailänder Scala uraufgeführt, also ein frühes Werk Bellinis. Für ihn schrieb zum ersten Mal – fast alle anderen Opern Bellinis sollten folgen – Felice Romani das Libretto, hier nach einem Roman von Charles Robert Maturin.

Wieder Pandemie-bedingt wurde die Aufführung am 13. Juni 2021 in einer etwas gekürzten konzertanten Version im Konzerthaus Dortmund ohne Zuschauer aufgezeichnet und ist ab 25. Juni 2021 als Video-Stream zu erleben.

Il pirata gilt als stilbildend für die italienische Oper im 19. Jahrhundert, auch betreffend das übliche Dreiecksverhältnis der Protagonisten:

Die Sopranistin namens Imogene liebt unglücklich den Tenor namens Gualtiero, der sie leidenschaftlich liebt, aber nach verlorenem Krieg fliehen mußte und nun als Anführer von Piraten ins heimatliche Sizilien zurückkehrt. Um ihren Vater vor grausamem Tod zu retten, mußte sie aber Gualtieros Todfeind heiraten, den bösen Bariton Fürst Ernesto, von dem sie ein Kind hat. Imogene und Gualtiero gestehen sich erneut ihre Liebe, was Ernesto natürlich herausfindet. In leidenschaftlicher Wut erschlägt Gualtiero den Ernesto und wird dafür zum Tode verurteilt. Dieses Leid treibt Imogene in den Wahnsinn, der hier wohl erstmalig in einer Oper auskomponiert wird.

Typisch für die italienische Oper des 19, Jahrhunderts ist auch der etwas schematische Aufbau der Gesangszenen. Beginnend mit einem Rezitativ folgt ein langsamerer Teil, häufig ein „cantabile“,nach dem manchmal schon zu früher Applaus ertönt. Als Zwischenstück kommt ein „tempo di mezzo“ vor dem schnellen Schluß, meist einer „cabaletta“ oder „stretta“ . Das gibt den Sängern Gelegenheit, ihre Gefühle durch Gesangskunst sowohl im erregten Sprechgesang, im Legato als auch in schnellen Koloraturen zu zeigen.

Starke Gefühlsschwankungen zeigt vor allem die weibliche Hauptfigur, sodaß die Oper eigentlich „Imogene“ heissen müßte. So konnte Maria Pia Piscitelli mit etwas dunkel timbrierten Sopran stimmlich sehr passend darstellen ihre Sehnsucht nach dem geliebten Gualtiero, mußte dessen Vorwürfe wegen ihrer Ehe mit dem ungeliebten Ernesto ertragen, warnte letzteren vor Gualtieros Mordabsichten, lehnte dessen Vorschlag einer gemeinsamen Flucht übers Meer hinweg (cerchiam per mari) ab und erlebte dann, dass Ernesto durch Gualtiero umgebracht wurde und dieser zum Tode verurteilt wurde. Hierzu verfügte sie über ergreifendes Legato, perlende Koloraturen, genau getroffene Spitzentöne, ordnete sich passend in die Duette mit dem Geliebten, dem ungeliebten Ehemann oder beiden ein, überstrahlte im grossen Finale des ersten Aktes alle Solisten, Chor und Orchester. Höhepunkt war die abschliesssende Wahnsinnsszene passend im Rezitativ begonnen mit s´io potessi dissipar le nubi (könnte ich die Wolken vertreiben). Legato freute sie sich, dass ihr kleiner Sohn gerettet wurde und beklagte nach einem grossen Orchesterschlag (suono ferale) den Tod des ungeliebten Ernesto und die Hinrichtung des geliebten Gualtiero, dies alles im grossen Stimmumfang von ganz tiefen Tönen, etwa bei tenebre oscure, bis hin zu verzweifelten Spitzentönen, die aber immer rund und nie spitz klangen.

Ihren geliebten Gualtiero sang ganz großartig Dmitry Korchak, den man schon in einer ebenfalls konzertanten Aufführung in Moskau bewundern konnte (auch bei Youtube) Er verfügte über phänomenal getroffene Spitzentöne, besonders bei wütenden Racheschwüren, hatte Atem für lange Kantilenen, konnte die Stimme dabei bis ins p zurücknehmen. Seine ergreifendste Szene war der Abschiedsgesang vor seiner Hinrichtung, wo er beklagte, dass an seinem Grab niemand trauern würde und hoffte, nicht für immer verhaßt zu sein (non fia sempre odiata) Das wirkte wie eine Vorwegnahme der Edgardo-Szene im letzten Akt von „Lucia di Lammermoor:

Mit bis in tiefe Töne mächtigem Bariton und treffsicheren Koloraturen gestaltete Franco Vassallo den Fürsten Ernesto, dessen Siegesfreude, dessen Sarkasmus gegenüber den falschen Beteuerungen Imogenes betreffend Rettung der Piraten und dessen Wut beim Treffen mit Gualtiero. So wurde das Terzett der drei im zweiten Akt mit den ganz konträren Gefühlsdarstellungen zu einem musikalischen Höhepunkt.

Passend besetzt waren die kleineren Partien mit Baurzhan Anderzhanov als weiser Eremit, Sungho Kim als Gefolgsmann Gualtieros und Liliana de Sousa als Imogenes Begleiterin Adele, die zu Beginn des zweiten Aktes ein kleines Solo zusammen mit dem Damenchor mit gefühlvollem Sopran sang.

Als gesamter Chor – Damen und Herren – war der Opernchor am Theater Dortmund einstudiert von Fabio Mancini auch wieder Pandemie-bedingt im Zuschauer-Parkett und im ersten Rang verteilt und sang trotz des grossen Abstands zwischen den einzelnen Sängern, etwa Dankgesänge der Piraten für die Rettung oder Siegeshymnen für Fürst Ernesto.

Die Orchesterbegleitung hatte die Neue Philharmonie Westfalen übernommen, wieder Pandemie-bedingt mit Masken für die Streicher und Plastikwänden zwischen den Bläsern. Unter der umsichtigen und exakten Leitung von Friedrich Haider gelang trotzdem schon die einleitende „Sinfonia“ rhythmisch sehr genau, farbig klingend, und mit mitreissendem Schluß. Zu loben sind die Soli einzelner Instrumente, genannt seien hier Hörner und Flöten und insbesondere im Vorspiel der Wahnsinnsszene wiederum die Hörner und besonders das Zusammenspiel von Harfe und Englisch-Horn.

Wäre Publikum dabei gewesen, wäre viel Applaus für einzelne Gesangsnummern und grosser Schlußapplaus sicher gewesen, obwohl ohne Untertitel trotz so weit wie möglich guter Textverständlichkeit der Sänger die Verfolgung der Handlung nicht immer einfach war. So schloß die Aufführung ohne erkennbare Reaktionen – solche gab es vielleicht in den begleitenden Chats. Sie kann aber noch über das Klangvokal Musikfestival auf You Tube über sechs Monate lang erlebt werden.

Sigi Brockmann 26. Juni 2021