Die Frage ist ja immer: Wie macht sich die Küsterin? Nicht, dass die Oper auch Die Küsterin heißen könnte; es ist schon richtig, dass „ihre Ziehtochter“ im Mittelpunkt des Geschehens steht, auch wenn sie, wie Wolfram Goertz einmal angemerkt hat, „die passivste Heldin ist, die es je in die Großbuchstaben des Titels eines Opernplakats schaffte“. Denn sie, die Ziehtochter, vollbringt am Ende eine brünnhildengleiche Tat der christlichen Liebe: Sie vergibt der Küsterin den Mord an ihrer, Jenůfas, Kind. Sie durchbricht den Kreislauf der Strafe und der Rache, auch des gesellschaftlichen Herkommens, wenn sie mit einem schlichten „Pánbúh vás potěš“ (Der Herr tröste / segne Euch) das Unverzeihbare vergibt. Wer es nicht erkennt, bekommt es durch das in Coburg übliche, doch ergiebige Programmheft erläutert; der Dramaturg André Sievers hat in seinen Beiträgen über die Entstehung der Oper, das „Dorf als soziale Matrix“, zur „Bedeutung des ‚einfachen‘ Menschen im Musiktheater Leoš Janáčeks“ und nicht zuletzt zur „Vergebung als ethische Provokation“, ergänzt durch ein wirklich instruktives Zitat aus der Feder Jacques Derridas („Man kann oder sollte nur dort vergeben (…), wo es Unverzeihbares gibt“) dem Besucher, der das Werk noch nicht kennt (und „kennt“…) einige sehr gute Hinweise gegeben.

Man sieht die zentrale Handlung, die der Komponist fast am Schluss seiner ersten großen Oper platziert hat, in der Inszenierung im Coburger Landestheater nicht als selbstverständliche Geste. Jenůfa, die körperlich und seelisch vielfach Geschädigte, das Opfer, das Lamm in der mährisch-slowakischen Dorfwelt, macht es sich nicht leicht. Sie drückt der Mörderin eher zaghaft die Hand, schaut sie nicht an und ringt sich eher angestrengt durch – aber sie ringt sich durch. Janáčeks Realismus trifft auf den Realismus einer Inszenierung, die niemals realistisch sein kann, nur die Chance hat, mit Bruchstücken der Wirklichkeit eine Szene zu entwerfen, die uns noch 120 Jahre nach der Brünett Uraufführung zu packen vermag. Sie tut es auch deshalb, weil die Küsterin in „ihrer“ Szene – eigentlich und uneigentlich sind es zwei, und ebenso eigentlich und uneigentlich ist sie immer da – in Gestalt und mit der imposanten wie schlicht schön (die Küsterin ist keine alte Hexe, sondern eine für heutige Verhältnisse noch fast noch mitteljunge und zunächst „starke“ Frau) klingenden Stimme der Kora Pavelić absolut und so präsent ist, dass am Ende der Dernière dieser Produktion die Bravorufe nur über sie herabprasseln.
Neben ihr steht mit Kelly God eine Jenůfa, die mit ihrer goldenen Sopranstimme der Unschuld der Figur vollen Zauber verleiht – ein Gegenteil der dritten Gruselnorn, die sich in Valentin Schwarz’ Bayreuther Ring-Inszenierung 2021 über die Bühne fantasierte. God spielt eine robuste wie zärtliche Frau, die im Korsett der sozialen und religiösen Normen, die sie doch selbst verinnerlicht hat (sie fühlt sich gegenüber den wirklich schuldigen Männern schuldig), ihr Menschsein nicht verloren hat; am Ende, wenn sie mit Laca in eine wie auch immer geartete Zukunft gehen will, zeigt sie die Regie zwar in einer deutlichen Distanz zum Mann (sie stehen beide zu Seiten des Dirigenten), doch schauen sie in dieselbe Richtung – in der immer noch die deutlich folkloristisch gekleidete junge Frau mit der Hochzeitskrone ihren derwischhaften Rundtanz vollführt und über die Bühne wandelt: als offensichtlich unsterbliche Erinnerung an die übermächtige, noch die Gegenwart dominierende Tradition.

Die Erfindung der jungen mährischen Frau gehört zu den schönsten Bildfindungen des Abends, der nicht auf der distanzierten Bühne, sondern vor ihr stattfindet. Der Regisseur Bálasz Kovalik hat die Szene sehr nah an die Besucher gerückt, man spielt nur ein paar Meter von ihnen entfernt: auf dem Podest und davor, auch auf den Rängen, gleich an den Saaltüren. Auch dies gibt der Produktion eine Dringlichkeit, die in Janáčeks Musik unausgesetzt arbeitet: vom initialen Mühlengeklapper bis zum letzten hymnischen Es-Dur-Akkord, der eine andere Welt als die der dörflichen, also sozialen Enge ausmalt. Angelika Höckner, Bühne und Kostüm, zitiert lediglich im Outfit der stummen Mährin konkrete „Volkstümlichkeit“ (Brecht wusste, dass das Volk nicht tümlich ist). Ansonsten bewegen wir uns in einem unbestimmten Kunstraum des 20. bis 21. Jahrhunderts, der neben einigen Plexiglasstühlen und dürren Bäumchen von einer großen, an einer Seite offenen Plastikkubushöhle – dem Rückzugsort des Chors, der Jenůfa und der Küsterin – und einem Bodeneingang akzentuiert wird, aus dem vorzugsweise die Kinderspieltruppe eines Weihnachtsmärchens inkl. Schäfchen (das ist kindlich entzückend) buchstäblich auftaucht. Religion wird zitiert, auch mit dem kleinen Kirchenmodell, in das der fliehende Kindsvater Števa sein Ablösegeld hineinwirft und die Krippenfigur der Maria platziert ist, die die unglückliche werdende Mutter zu ihrer Marienanrufung bewegt. Das sind so Regieeinfälle, die den ganzen Abend über tragen und vergessen lassen, dass das Werk ursprünglich aus einer vollkommen realistisch gezeichneten mährisch-slowakischen Region entsprang; für den Komponisten, dem es ausdrücklich um das „menschliche Individuum“ ging, war es freilich schon damals kein ethnisch einseitiges Volksdrama. Also spazieren auch Laca und Števa wie Figuren von heute über die Bühne, auf der nicht mehr die Kartoffeln bearbeitet, sondern von den „Kindern Evas“ (O-Ton Jenůfa) Äpfel poliert werden, ohne sich allzu burschikos an irgendeine modernistische Gegenwart zu ketten. Die Hauptsache sind eh wieder und immer noch die singenden Menschen, einschließlich des von Alice Lapasin Zorzit sehr gut einstudierten Chors des Landestheaters Coburg, der zwischenzeitlich, weil der Rhythmus halt in die Beine fährt, ein paar Tänzchen hinlegt und erstklassig mit dem Ensemble harmoniert.

Števa ist in Coburg Simon Esper; er singt einen stimmlich höchst überzeugenden, präpotenten wie auf seine Weise geschädigten Menschen – wie die Küsterin ist er durchaus kein Unmensch. Er ist als verantwortungsloser Kindsvater zugleich Täter an Jenůfa und Opfer der Menschen seiner Umgebung, die wiederum Opfer der Menschen ihrer Umgebung und ihrer Vorzeit sind. Auch Laca ist Beides. Die Verletzung von Jenůfas Wange geschieht in Coburg halb mutwillig, halb unabsichtlich, in summa wird es ein dummer Unfall gewesen sein. Jenůfa kann auch Laca verzeihen, der wiederum meint, ihr den „Fehltritt“ verzeihen zu müssen. Am Ende entscheidet sich die Regie dafür, mit Janáček und der Librettistin Gabriela Preissová, die das textlich genau zugrundeliegende Schauspiel Ihre Ziehtochter schrieb, auch Laca zu vergeben. Der ist mit Gustavo López Manzitti prominent besetzt, obwohl ich auch diesmal bemerken muss, dass eine Lautstärke mit 10 bis 15 % weniger Dynamik völlig ausreichen würde, um die Partie deutlich genug zu gestalten; dass Manzitti die komplexe Figur des Laca „kann“, muss nicht eigens betont werden, auch wenn, aber das merkt nur die Tschechin im Zuschauerraum, nur wenige Hauptrollen-Sängerinnen so singen, dass eine anwesende Tschechin das Tschechische zu verstehen vermag. Den Coburgern kann’s natürlich egal sein. Ioana Tautu und Daniel Carison vervollständigen als alte Buryja (hier ist sie eine strenge, keine gütige Gestalt, die die Lesefähigkeit der Jugend als Angriff auf die „Tradition“ vorzukommen scheint; jedenfalls zerreißt sie, das ist bös, Janos Schreibheft) und stimmlich sehr prägnanter Altgesell das Ensemble, bevor mit Bartosz Araskiewicz und Emily Lorini das Dorfrichterpaar und Hlengiwe Precious Mkhwanazi als lustig plapperndes Töchterlein Karolka den Saal und die Bühne betreten. Nicht zu vergessen: Jieun Jong in der kleinen, aber wichtigen Rolle des Jano, der, als Lese- und Schreibschüler Jenůfas, wesentlich mehr als ein paar Spritzer Atmosphäre ins soziale Geschehen hineingibt.

Egal, dass einige Zuhörer in die Generalpause zwischen dem Abgang der Küsterin und dem Beginn der Schlussszene hineinklatschen. Woanders soll das ja auch schon mal passiert sein. Das Orchester aber wird so gefeiert wie die Vokalisten. Der GMD Daniel Carter führt das Philharmonische Orchester Landestheater Coburg so durch die reiche Partitur, dass man wähnen könnte, er und seine Musiker hätten ein paar Semester an der Prager Staatsoper oder dem Tyl-Theater in Pilsen hospitiert. Inmitten des Orchestertutti und -gruppen (die Streicher am Beginn der Küsterinnen-Szene, die Bläser bei den Tänzen) fallen die Solisten auf, insbesondere, natürlich, die Solovioline an den markanten Solostellen. Das Landestheater Coburg hat also mit der Jenůfa wieder einmal bewiesen, dass ihm Janáček nicht fremd ist und eine moderne Inszenierung gerade dann gelingen kann, wenn die folkloristischen Elemente zum Zweck der Vertiefung des Dramas intelligent und sinnlich angedeutet oder gar gezeigt werden – und wenn eine Küsterin und eine Titelheldeninterpretin zur Verfügung stehen, die das Menschentum des Komponisten vokal und gestisch total ausleuchten. Der lange und überaus herzliche Beifall ist und war also nicht übertrieben.
Frank Piontek, 16. Juli 2025
Jenůfa
Leoš Janáček
Landestheater Coburg (im Globe)
Premiere: 17. Mai 2025
Besuchte Vorstellung: 16. Juli 2025
Regie: Bálasz Kovalik
Dirigat: Daniel Carter
Philharmonisches Orchester Landestheater Coburg