Coburg: „Siegfried“, Richard Wagner

Manchmal können unglückliche Situationen zu etwas durchaus Glückhaftem führen. Wäre also der Hauptdarsteller und -sänger des neuen Coburger „Siegfried“ nicht außer Stande gewesen, die bekanntlich sehr fordernde Schlussszene zu singen, und wäre nicht Zoltán Nyáry oder genauer: Nyáry Zoltán, eingesprungen, um, durchaus stimmig, neben dem stummen Sänger zu stehen, wäre die Neuinszenierung um ein reizvolles Detail ärmer gewesen – denn die Ersetzung sorgte dafür, die freiwilligen Substitutionen noch surrealer zu machen, als sie eh schon sind. Das Surreale aber ist es, rein szenisch betrachtet, was den „Siegfried“ in der Coburger Neufassung letzten Endes rettete – und dies nicht, obwohl, sondern weil zunächst eine Waldvogel-Frau auf den Erwecker wartete, während die Sängerin der Brünnhilde lang und bewegungslos an der Hinterwand der Bühne saß. Damit aber nahm sie erst einmal und scheinbar die Rolle jener Statisten und Statistinnen ein, die uns seit dem „Rheingold“ durch die Coburger „Ring“-Welt begleiten.

© Annemone Taake

Hatte ich jedoch noch anlässlich der „Walküre“-Premiere geschrieben, dass „im Coburger ‚Siegfried‘, den wir sehnlichst erwarten, die nutzlosen Statisten die Bühne verlassen haben sollten“, kann ich nun vermelden, dass sie zwar immer noch drauf stehen und wandeln, aber ab dem zweiten Akt Sinn in die Sache gekommen ist. Denn nun stehen, sitzen und glotzen sie nicht allein überflüssig durch die Bühnengegend. Nun haben sie einen Mehrwert, der so übernatürlich wie reizvoll ist. Der Regisseur Alexander Müller-Elmau ist einen Schritt weitergegangen, indem er die namenlosen „Besucher*innen“, wie sie zwar gendergerecht, aber latent verwirrend (denn wer, Hand aufs Herz, dächte bei der Lektüre des Worts nicht immer noch mehr an weibliche als an männliche Besucher?), im Personenverzeichnis genannt werden, per Definition zu „Gibichungen“ machte, also zu Über- und Nachlebenden jener Katastrophe, die im Finale der Tetralogie erzählt wird. Dies allein würde noch nicht genügen, um die Anwesenheit der stummen Gestalten zu legitimieren. Interessant wird der Coburger „Ring“-Fall erst dort, wo eine Statistin keine Statistin, sondern eine junge, beschädigte Frau aus dem Prekariat (Erda) oder eine junge Dame mit Luftballon (die Waldvogel) oder gar, aufführungstechnisch gezwungen, der schlussendlich singende Siegfried No. II ist. So gibt die Regie endlich dem Statistentheater das, was des Statistentheaters ist: Lebendigkeit und Tiefe, ohne dass man jedem Moment wissen müsste, wieso diese oder eine andere Figur dies oder jenes zu „bedeuten“ hat. Gefragt ist: der mündige Zuschauer.

© Annemone Taake

Die Hauptsache bleiben natürlich, auch wenn Tankred Dorst bei seinem unterinszenierten Bayreuther „Ring“ vom Gegenteil überzeugt sein mochte, nicht die „Besucher eines inzwischen ausgeräumten Museums, wie es im „Rheingold“ noch gut sichtbar war, sondern die Hauptfiguren. Patrick Cook singt, gerade einigermaßen erholt, mit schönem, auch lyrisch starkem Anklang den Siegfried, der über den Vorzug verfügt, vor Gott und Menschen angenehm zu sein, wie Gotthold Ephraim Lessing das ausgedrückt hätte – der Dichter Lessing, nicht der gleichnamige Bearbeiter der Partitur, die in modifizierter Version im Orchestergraben des Landestheaters realisiert wird. Denn dieser Siegfried ist kein bloßer Schlagetot, sondern ein Mann mit vielen Gesichtern. Zu den absoluten musikdramatischen Stärken dieses Abends, die vor allem ab Akt II den Hörer und Zuschauer ergreifen, gehören die sensibel-lyrischen Tiefen des Tenors. Siegfried hat es am Ende des ersten Akts geschafft, der Dominanz seines Ziehvaters zu entrinnen, indem er sich den verkabelten Helm vom Kopf riss, mit dem er offensichtlich schon seit vielen Jahren einer Gehirnwäsche unterzogen wurde. Nun ist er in der Lage, aus den Trümmern des alten Schwerts eine neue Waffe zu schaffen, über deren hahnebüchene Produktion man nicht rechten muss, auch wenn Wagner sehr genau wusste und zeigte, wie man ein Schwert schmiedet.

© Annemone Taake

Klar, dass aus dem zerraspelten archaischen Instrument ein kleiner Peacemaker werden kann; wer auf „Werktreue“ aus ist, sollte das „Deutsche Museum“ besuchen. Als Metapher für einen revolutionären Akt, auch für schwer symbolischen einen Schuss aufs Gehirn-Gold, wie wir es aus dem „Rheingold“ kennen, tut die Knarre gute Dienste – wenn nur die Schlusspointe des ersten Akts nicht versemmelt würde. Frage an die Regie: Wieso schießt Siegfried zweimal in die Luft? Und wieso hat der Schuss auf die glühend rote „Discokugel“ keine szenische Konsequenz? Das sind so Details…

Kommt hinzu ein Mime, der sich im Kopfakt – ganz bewusst, wie er im Interview sagte – auf die „schönen“ Töne verlässt. Halten zu Gnaden, aber Mime ist kein Wesen, das „schöne“ Töne produzieren soll. Erst im zweiten Akt läuft Simeon Esper zu Hochtouren auf und gibt dem Mann die schneidende Schärfe des verzweifelten Irren. Merke: Ein guter Loge muss noch kein guter Mime sein – aber wenn sich Esper zusammen mit dem gleichfalls eher elegant und dynamisch zurückhaltend singenden, gar nicht raunzigen Alberich Martin Trepls in den verbalen Clinch begibt, begreifen wir, was man mit dem Wort vom „Kavaliersduett“ meint. Rein optisch sind die beiden Kämpen rein divers: während Alberich wie ein alt gewordener Yuppie vor Fafners Höhle herumstromert, begegnet uns in Mime eine Kreuzung aus Charlton Hestons Ehrfurcht gebietendem Moses (im monumentalen Klassiker „The ten commandments“) und einem Zwerg aus der isländischen oder tolkinschen Mythologie. Die Vermutung, dass Wagner mit dem kleinen Kerl auf die Eigenschaften eines Mitglieds der „jüdischen Race“, wie er sie sah und hörte, hinweisen wollte, könnte mit der szenischen Darstellung zur Diskussion gestellt werde; es ist ja auch kein Zufall, dass die spätestens seit Adorno umstrittene Frage nach dem Antisemitismus im „Ring“ demnächst in einem Coburger Symposion angesprochen werden wird. Dass Simeon Esper eine jüdische Karikatur (mit freilich bemeitleidenswerten Zügen, die ihm der Musiker und Dichter Wagner auch mitgab) auf die Bühne stellt, wird man schon aufgrund des Alicia Müller geschaffenen beeindruckenden Patriarchenkopfs nicht behaupten können.

© Annemone Taake

Michael Lions Wanderer läuft immer noch mit seinem wölfischen Pelzmantel über die Bühne, die mit schwarzem Plastik ausgeschlagen ist: ein Kontrast des Kunst-Theaters dieser Inszenierung. Hört man genauer hin, hat man immer noch den Eindruck, dass die Höhen dieser Partie (gewiss: der Wanderer stellt andere Ansprüche als die beiden Wotane) nicht seine Sache sind, aber man wäre schon ein Hundling, würde man die Güte seiner Charakter-Interpretation so in Abrede stellen wie die Behauptung aufstellen, dass ein Hoodie nicht zum Wanderer gehören würde und er seltsamerweise immer noch aus zwei gesunden Augen zu schauen scheint. Ein Verzicht auf das Micky-Mousing von Wort und Szene geht freilich gelegentlich mit einer Absurdität einher, die bedenkenswert sein könnte; um auf einem Auge bind zu sein, bedarf es keiner äußere Verletzung. Die Brünnhilde der Åsa Jäger legitimiert jedoch alles an szenischem laisse-faire, was möglich ist. In der „Walküre“ überwältigte sie das Publikum durch ihre schiere vokale Präsenz im Dramatischen wie im Innerlichen, im „Siegfried“ wiederholt sie genau dies in „ihrer“ Szene, neben der der ungarische Tenor gut besteht und Siegfried/Cook sich szenisch, als Suchender, behauptet. Die Vorfreude auf die Coburger „Götterdämmerung“ ist schon deshalb gewaltig groß.

Bleiben die „kleinen“ Rollen, die es im Prinzip bei Wagner, und schon gar nicht im „Siegfried“, nicht gibt. Erda heißt hier „Evelyn Krahe“, die einen relativ leichten, doch sehr schön dunkel gefärbten Alt besitzt und die erste, unvergleichliche Szene des dritten Akts zu einem der vokalen Höhepunkte des Abends macht. Der Fafner heißt Bartosz Araskiewicz, er macht das, was er in vielen „Siegfried“-Produktionen macht: er macht ihn als sehr sehr alten Mann, in diesem Fall „nackt und bloß, so wie er kam aus Mutters Schoß“, wie es im „Jedermann“ so schön heißt, und er macht ihn stimmlich höchst sicher, wobei der gigantische Schalltrichter – eine Erinnerung an das Hilfsmittel, die seit der Bayreuther Uraufführung viele Fafner verstärkt haben – Beides ist: eine augenzwinkernde Hommage an die Aufführungstradition und eine Interpretationsverstärkung für eine Figur, die sich künstlich aufbläht und am Ende ohnmächtig vor dem Homo Novus erliegt. Da hilft auch der Spiegel nichts, in dem sich die Herumlungerer schon einmal prüfen konnten; schön ist auch die Herbststimmung, die über dem Bild liegt und, siehe oben, theatralisch ergiebig der Einsatz jener freilich eingreifenden Statistin, die ein totes Blatt nach anderen auf den schlafenden Alberich herabrieseln lässt.

Auch die Dame Waldvogel ist so eine eingreifende Kraft. Die Inszenierung vertraut dem märchen- und kinderhaften Impuls des Stücks, wenn plötzlich ein Luftballon ins Spiel kommt und Siegfried, statt auf dem lächerlichen „Rohr“ lächerlich zu blasen, lieber den Ballon anpfeift. Francesca Paratore spielt diese von der Einspringerin Claudia Bauer gesungene Frau; im Programmheft wird sie auch als Freya (nicht „Freia“…) bezeichnet. Die Göttin der Jugend und Liebe, die Stimme der Mutter, die Verbündete des jungen Mannes – alles eins. Und so kann sie zunächst jenen Platz einnehmen, den „an sich“ Brünnhilde einzunehmen pflegt: als Platzhalterin und Vorbereiterin, als skeptische Zuschauerin einer Initiation, als schöne Frau zwischen der „Realität“ der Besucher und der Fantasie des Theaterspiels und -raums, der über weite Strecken an Nüchternheit nichts zu wünschen übrig lässt.

Denn für die Flammen der Imagination müssen vor allem die Sänger und Musiker sorgen. Das Orchester des Landestheater Coburg erspielt sich unter dem GMD Daniel Carter mit dem „Siegfried“ weitere Lorbeeren, obwohl für einen erfahrenen Hörer, mehr noch als in den vorangehenden Teilen, die Differenz zum vollen Orchesterklang der originalen Besetzung hörbar ist. So schmelzend klingen die Bratschen und Violoncelli hier halt nicht, wenn Siegfrieds Sehnsucht chromatisch aus dem Graben aufblüht. Was letzten Endes wichtiger ist, ist die Sicht auf eine gebrochene Figur, die man in all ihrem Furor und ihrer Naivität, ihrer Lautstärke und Lauterkeit verstehen kann, ohne dass man gleich von einem „Helden“ reden müsste. Wisst Ihr was aus ihm wird?

Wie gesagt: Die Vorfreude auf die „Götterdämmerung“ ist jetzt schon groß.

Frank Piontek, 13. März 2023


Siegfried

Richard Wagner

Coburg

Regie: Alexander Müller-Elmau

Dirigat: Daniel Carter

Orchester des Landestheater Coburg