Besuchte Premiere am 18. September 2015
Genugtung für Traditionalisten
…und die ganze dramaturgische Spannung, die Tragik des Sterbens, platzte wie eine Seifenblase, weil – obwohl der Schrei der Verzweiflung und der Orchesterklang noch im Saal schwangen – das Publikum schon frenetisch klatschte. Als hätten die Leute den Leichenschmaus nach Mimis Tod nicht abwarten können? Aber was hatte man zu erwarten? Bei den vier Bohemiens in der Dachgeschoßwohnung gab es nur eine trockene Wurst und ein zu kurz geratenes Baguette, sinnbildlich für Kunst und Künstler, die überall zu kurz kommen. Auch beim Bäcker.
Fangen wir aber anders an: Mimi in der ersten Szene, in der sie Rodolfo kurz von sich erzählt. Megan Marie Hart, eine amerikanische Sopranistin mit einer kräftigen, perfekt artikulierten Stimme, reichen einige sparsame Handbewegungen, das dezente Aufknöpfen der Bluse, um ein ihre Rolle bestimmendes Merkmal zu setzen: Die Körperlichkeit und Sinnlichkeit des Leidens, die Körperlichkeit und Sinnlichkeit des Sterbens. Dieses Merkmal begleitet Mimi in der ganzen Vorstellung. Auch wenn die Sterbensszene – findet die Freundin – nicht besonders dramatisch ausgefallen war, der schleichende Tod war von Anfang an dabei. Ein Stigma. Ein Schicksal, das sich nicht durch das verstohlene Husten ankündigt – was lediglich dem im Original aufgedrängten Verhaltensmuster entspricht – sondern durch das erste Zeichen bei der ersten Begegnung: Hier bin ich, das ist mein Körper, der ist krank, der wird eingehen. Ich sterbe.
Die Inszenierung bemüht sich gar nicht, progressiv, umstürzlerisch, gar skandalös zu sein – was unter einigen der Kollegen Rezensenten schon ein Grund genug für einen Skandal wäre. Nein. Gabriele Wiesmüller zeigt die Oper so, wie sie von Puccini und Illica geschrieben worden war, ganz in der Konvention des damaligen Theaters. Wer etwas anderes erwartet, wird hier enttäuscht sein. Für Traditionalisten (da müssen wir uns einigen, wo die Tradition ansetzt: Bühne? Gesang? Orchester? – Meistens steht nur die Bühne kopf; an die Musik geht niemand ran. Und warum eigentlich nicht?), also, für Traditionalisten ist diese Detmolder Boheme eine Genugtuung. Mehr noch: ein Genuss. Gabriele Wiesmüller lässt keine von Puccini und Illica gegebene Möglichkeit aus, sie geschickt in die Bühne zu setzen. Sie macht ein Theater, schafft die theatereigene Illusion fern einer künstlichen „theatralischen“ Schablone. Es ist bunt, wo es auf der Straße bunt zugeht, nüchtern und vorsichtig, wo die Emotionen persönlich, intim, nach innen gewandt werden. Mit langem Schweigen, wenn eine Reflektion unvermeidlich ist (vorausgesetzt, niemand fängt an zu klatschen). Die vier Bohemiens – Ewandro Stenzowski, Insu Hwang, Andreas Jören, Michael Zehe – zeigen sich zwar als eine geschlossene Gruppe, geschlossen um ihre Mittellosigkeit. Jeder einzelne ist aber ein Individualist, ich-bezogen, launisch, kindisch. In ihren Gewaltausbrüchen achten sie am Spielanfang noch sehr darauf, das Theatermobiliar nicht allzu sehr zu strapazieren (in Zeiten der Etatkürzungen muss man wohl auch darauf achten?), später aber gibt es keine Hemmung mehr. Sie alle folgen im Ganzen dem Konzept der Regie, machen ein gutes Theater mit Musik – und gute Musik zu einem guten Theater. Mit der Einschränkung, dass man nicht von allen auch gleich großes schauspielerisches Talent erwarten kann.
Musetta, Katharina Ajyba. Baut den Kontrast zu der nachdenklichen Mimi auf mit einer übertriebenen Artikulation, was das Verstehen ihrer Musik zuweilen erschwert. Ja, einverstanden, das ist ein Teil ihrer Rolle. Aber man kann die Allüren der schrill auftretenden Dame klarer, musikalisch präziser darstellen. Nach der Premiere vom Liebestrank war ich von Aiybas Stimmsicherheit und Gesangstechnik angetan, mit dem Hinweis auf gegebene Voraussetzungen für gute weitere Entwicklung. Ich warte darauf.
Das Bühnenbild von Petra Mollérus markiert den Ort und die Zeit des Geschehens dezent, es ist nur eine Andeutung der Dachgeschoßwohnung. Dafür die Kostüme korrespondieren kongenial mit der Dramaturgie. Im Zusammenspiel mit der Beleuchtung (Eva-Nadine Krischok) spiegeln die Farben konsequent die Stimmung auf der Bühne wider. Und über allem der kalte abweisende Wolkenhimmel.
Jan Ochalski, 21.09.2015
Bilder: Landestheater