Detmold: „The Turn of the Screw“

Die Schraube der Erschütterung

Zweite Premierenbesprechung

Es gibt wenige Taten, die von Anfang an zweifelsfrei gut oder schlecht sind, die meisten moralischen Entscheidungen seien zweifelhaft – sagen die Jesuiten.

Ist das nicht so, dass man für eine ungewöhnliche, nicht verstandene Erfahrung der Umwelt und der eigenen Sinne nicht selten nach einer Rechtfertigung in der Phantasie sucht? Man braucht Legenden, die viel erklären, man klagt das Schicksal an, man ruft Geister, um ihnen die Schuld für Antworten zuzuweisen. In Benjamin Brittens Kammeroper „The Turn of the Screw“ sind es Fragen der heimlich erwachenden, verbotenen kindlichen Erotik, der überwältigenden Überraschung von der Erfahrung eigener Sexualität.

Sind die Geister in dem Drama nur Geister, oder sind sie wahre, wahrnehmbare Lebewesen? Bedient sich Henry James lediglich einer Metapher, um nicht direkt von etwas erzählen zu wollen, was ohnehin nicht erzählt werden durfte? In der Zeit, in der er die Novelle „The Turn of the Screw“ schrieb, war es ein Tabu, öffentlich Meinungen über verschiedene Facetten der Sexualität zu äußern, besonders der in ungewohnten, von der im Verständnis der Allgemeinheit abweichenden Nuancen ausgelebten. Auch ähnlich in den frühen 1950er Jahren, als Britten die Oper schrieb. Das Kind singt: Malo… Malo… Laut Programmheft: „ein sonderbares Lied…“ Männlich… Männlich…

Hm, die Zeit der Unschuld ist vorbei, singt Miss Jessel, aber sie ist nur ein Geist, was sie sagt, zählt nicht für uns Lebende, auch wenn sie so viel Leid im Leben erfahren hat. Schwanger und verlassen ging sie fort und starb. Starb und kehrte zurück, um zu warnen? Oder zu verführen?

In seinem Konzept der Inszenierung erzählt der Regisseur Georg Heckel die Geschichte der von ihrer erwachenden Sexualität selbst überraschten, überwältigten, oder wer es mag, von Geistern verführten zwei Kinder. Stück für Stück wie Kalenderblätter, die man umlegt. Zwischen die einzelnen Szenen legt er Pausen ein, diese werden gefüllt durch die Musik vor einem geschlossenen Vorhang in nichtssagenden verwässerten Pastellfarben – nichts soll von der Spannung ablenken, die auf der offenen Bühne gerade aufgebaut worden war. Die Musik spielt allein die Handlung weiter, das Publikum hat Zeit zum Nachdenken.

Die Sexualität der Kinder ist nur angedeutet, die Wahrnehmung des eigenen körperlichen „Ich“ findet eher im Unterbewusstsein statt. Nur die beiden Geister verstecken sich nicht hinter ihren Absichten und Handeln. Wir wissen nicht, was sie vorhaben, ob es Kindesmissbrauch ist, Provokation, oder eher Liebe und Fürsorge? Oder reine Lust?

Die Kinder scheinen die Geister nicht direkt wahrzunehmen, oder sie bilden sich ihre Anwesenheit ein, wenn diese einem konkreten Zweck, der Rechtfertigung eigenen Benehmens dienen kann. Werden die Kinder von den Geistern manipuliert? Oder umgekehrt, wird die Rolle, der Einfluss der Geister von den Kindern manipuliert? In gemeinsamen Szenen gibt es kaum Blickkontakt und kaum körperliche Nähe, das verstärkt das Gefühl, ja die Gewissheit, dass sich das doch nicht wirklich in dem Haus Bly, sondern in den Seelen der Kinder abspielt.

Korruption der Unschuld, hat jemand über „The Turn of the Screw“ geschrieben. Auch die Frage wurde gestellt, ob es um Missbrauch oder um Provokation geht. Das Libretto gibt keine klare Antwort, aber es bewirkt, was im guten Theater Gold wert ist: Eine dramatische, mit widersprüchlichen Emotionen, Wut, Entsetzen, Mitleid, Liebe, Erotik, Hilflosigkeit, Hass und mit viel Interpretationsmöglichkeit, Anreiz und Herausforderungen, voll beladene Erzählung.

Und gerade das ist die Detmolder Aufführung. – Nichts für schwache Nerven – sagt meine Freundin.

Die Musik? Benjamin Brittens Genie zeichnet sich auch darin ab, dass seine Musik außerhalb einer anerzogenen Schönheit von Harmonie in festgefahrenen ästhetischen Erwartungen von Wort und Musik weit überlegen ist. Sie ist eine Weiterführung, ein Spiel gegen den verhärteten und um den erweiternden ästhetischen Sinn, reich an raffinierten Klangverflechtungen, Nuancen, die mit harmonischen Zusammenhängen erst verwirren und dann faszinieren. Das Unbekannte hat von Natur aus das Potential zum Überraschen, vorhergeahnte, bereits in der Phantasie erwartete Tonfolgen beruhigen zwar, am Ende erweisen sie sich aber nicht selten als trivial.

Brittens Dramatik der Komposition steigert diese psychologisch verwirrte Handlung und die Bedeutung der einzelnen gesungenen Sätze – nein, es ist keine Musikbegleitung, es ist die Handlung des Dramas ausgedrückt in der Sprache der Klangwelt, der Musik, die den jeweiligen Seelenzustand widergibt. (Musikalische Leitung György Mészáros)

Die Bühne. Drei große, tiefe bewegliche Rahmen werden von Szene zu Szene in unterschiedlichen Konstellationen zueinander aufgestellt, diffus beleuchtet und mit sparsam projizierten grellen Scheinwerfern zerschnitten (Licht Carsten-Alexander Lenauer). Im Spiel von Nebel-Schatten-Licht umgeben sie fügsam die Dramatik so suggestiv, dass die Aufmerksamkeit sich meistens nur auf die Darsteller auf der Bühne richtet, und man weiß, dass sie im Zimmer, im Bett, im Schulunterricht, im Turm, in der Kapelle sind. Diese bühnenbildnerische Zurückhaltung verlagert die Aufgabe und die Freiheit der Deutung und Urteilung auf den Zuschauer, er muss sich ein Bild kraft der eigenen Vorstellung bauen. Das Bühnenbild (Timo Dentler & Okarina Peter) lenkt nicht ab, überlässt den absoluten Vorrang dem Wort und Ton. Und der Reflexion: Das Drama und das Thema sind zeitlos, aktuell.

Eine der Szenen, die unter die Haut geht: Die beiden Geister, Miss Jessel & Quint, und die Kinder, im Schlaf? Halbschlaf? Die Geister verführen sie zu ihren Welten, manipulieren mit ihrer erwachenden Sexualität und ihrem Leid der Unsicherheit – es ist ein Kampf, ausgetragen mit der Kraft der Musik und des Wortes, fast ohne Gestik. Das Drama spielt weiter in der bewussten, unterbewussten Welt der Kinder: Was bin ich, was will ich, was wollen sie von mir. Was muss ich? Ist das gut? Oder teuflisch? Hart.

Und jetzt das Wichtigste: Alle, also die Sänger, die Musiker des symphonischen Orchesters des Landestheater, die Regie, Bühne und Licht, werden in die Aufführung eingebunden als autonome Teile, die sich perfekt in ein komplexes Werk zusammenfügen. Die Musik und das Wort sind feste, geniale Vorgaben. Die Ausführenden standen vor der Aufgabe, mit ihrem Können diese Vorgaben ebenbürtig in Szene zu setzen, und sie sind dieser Aufgabe mit einem sensiblen Gespür für die Bedeutung und die Botschaft des Werkes gefolgt, sie sind ein Teil der Szenen und ein Teil der Musik – eine Symbiose, ohne die die schwerwiegenden Inhalte nicht klar durchgekommen wären. Diese Aufführung bleibt lange in Erinnerung. Auch unter dem anfangs zitierten Satz: Es gibt wenige Taten, die von Anfang an zweifelsfrei gut oder schlecht sind.

Die enthusiastische und dann doch verzweifelte Gouvernante (Emily Dorn), Miss Jessel (Lotte Kortenhaus), geisterhaft dort, wo der Geist gefragt wird und Schauer über den Rücken fahren lässt, Quint (Stephen Chambers), eh, ein netter Geist, eigentlich ein fürsorglicher Kumpel vom Sportplatz. Die Haushälterin Mrs. Grose (Monika Walerowicz), ja, sie hat mit ihrer Rolle versucht, das zusammen zu halten, was nicht zusammenzuhalten war. Und die Kinder? Der kleine Miles (Johann Kaßmann) ist wirklich ein kleines Kind, er braucht es nicht vorzuspielen. Seine ältere Schwester Flora (Stephanie Hershaw)? Es scheint, dass sie von den Ereignissen im Haus Bly mehr weiß, als die Gouvernante, die Haushälterin und selbst die Geisterfrau.

Jan Ochalski, 6.4.22

Bilder siehe unten !

PS: Der Text ist sehr dicht, das Englisch des Gesangs schwer zu verstehen, die Leuchttafel mit der deutschen Übersetzung voll von Sätzen, die manchmal sehr rasch aufeinander folgen. Gespalten muss man die Aufmerksamkeit teilen zwischen oben und unten und oft schnell entscheiden, was nun: Der Text? Die Bühne? Die Musik verlangt ja auch eine konzentrierte Aufmerksamkeit. Bei einem Werk mit einer Fülle von intellektuellen, provozierenden Text- und Musikherausforderungen müsste man vorher nicht nur die Inhaltsangabe, sondern das ganze Libretto lesen. Also nichts für Besucher, die eine leicht erkennbare Kost erwarten