Detmold: „Written on Skin“

11.4.14

Wundervoll. Unbedingt sehen !

Ein Machthaber, der nach einer Rechtfertigung seiner Macht sucht, braucht Legenden. Heute genauso wie in aller Ewigkeit.

Zum Beispiel im 13. Jahrhundert, in der Provence. Eine Geschichte, erzählt hier in gröbsten Zügen: Ein reicher Landbesitzer beauftragt einen jungen Künstler, ein illuminiertes Buch zu gestalten, in dem alles Böse den Feinden und alles Beste dem Auftraggeber zugeschrieben werden soll. Der Künstler und die kindliche Frau des Auftraggebers verliebten sich ineinander, und sie – durch die Liebe selbstbewusst geworden – nimmt Einfluss auf den Inhalt der entstehenden Schrift. Der Landbesitzer entdeckt die Liebenden, tötet den Künstler, die Frau bringt sich selbst um.

Das in groben Zügen. Im Original ist die Geschichte subtil, sehr nuanciert in der Erwachsenenwerdung der Frau, in der Poetik der Gewalt und der Liebe, ein dankbarer Stoff für das fein gesponnene Drama. Martin Crimp fertigte danach das Libretto für George Benjamins Oper „Written on Skin“, eine Musik, die nicht nur wegen der drei Engel auf der Bühne eine himmlische ist.

„Ich habe sehr darauf geachtet, dass die Vokallinien klar herauskommen und sogar in das harmonische Gewebe rundherum integriert werden. Ich wollte vor allem, dass die Vokallinie zu jedem Zeitpunkt die Intentionen der Figuren widerspiegelt. Hinter jeder Dialogzeile gibt es ein Kräfteverhältnis und eine Absicht. Ich versuche also, diese Absicht in der Stimmlage, der Linie, der Rhythmen und den Farben der Stimme einzufangen, denn meine Rolle ist es, dem Drama zu dienen und versuchen, eine Wahrheit zu finden.“ (George Benjamin, zitiert nach dem Abendprogramm)

Diesem Versuch der Wahrheitsfindung folgte auch Kai Metzger, der Benjamins Werk am Landestheater Detmold inszenierte, mit dem Ergebnis, dass eine Produktion entstand, die das seltene Prädikat verdient: Wundervoll. Und gleich die Frage: Was bedeutet „wundervoll“? Was ist es konkret, greifbar, vorstellbar, was diese Oper und diese Inszenierung so auszeichnet? Es ist eine traurige, wundervoll gesponnene Liebesgeschichte, es ist das Anreihen von mehreren dramaturgischen Höhepunkten, Bruchstücken, aus denen doch jedes Glück – und jede Tragödie – besteht. Wie das zum Beispiel, wenn die Geliebte auf Befehl ihres Mannes, ihres Tyrannen, das Herz des ermordeten Geliebten essen muss, und fast wahnsinnig vor Verzweiflung zu sagen wagt: „Nichts, was ich esse, nichts, was ich trinke, wird je den Geschmack vom Herzen dieses Jungen aus diesem Körper nehmen. Keine Gewalt, die du anwendest, nichts, was du verbietest, kann die Bilder entfernen, die der Junge mit seinen Händen auf diese Haut gezeichnet hat.“ Oder wenn sie, eine Analphabetin, sich das Wort „Liebe“ auf ihrer beschriebenen Haut zeigen lässt und es an die Wand nachmalt… Billige Griffe? Keinesfalls. In der Symbiose dieses Dramas, des Schauspiels, der Musik, der Bilder, gehen diese kleinen Szenen unter die Haut. Realistisch. Nachvollziehbar für jeden, der fähig ist, selbst starke Emotionen zu spüren.

Lutz Rademacher führt das Orchester – für diese Produktion ergänzt durch Studenten der Detmolder Musikhochschule – äußerst vorsichtig, um das Gleichgewicht zwischen dem Theater und der Musik nicht zu gefährden. Benjamins Musik ist „direkt, authentisch und modern“ (G.B.) zugleich, stellt aber keinen Anspruch auf Dominanz oder Wiedererkennungswert, sie fügt sich kongenial in die dramatische Spannung der Tragödie, malt die Geschichte mit Klangfarben förmlich nach. So wie auch die Videoprojektionen (Martin Kemner), die mal eine Landschaft, den Himmel oder abstrakte Farbformen zeigt, dezent, elegant, keinen Augenblick überflüssig.

Kai Metzger verstand diese Oper als ein Kabinettstück: Eine kleine Besetzung war ohnehin vorgegeben, der während des ganzen Abends unverändert gebliebene Raum, passt sich den Dimensionen des kleinen Landestheaters konsequent und selbstverständlich an (Bühne und Kostüme Petra Mollérus). Es ist ein verlassener, verfallener Raum einer Heilanstalt. Hierhin verirrt sich nur selten das Anstaltspersonal, und wenn, dann ohne die Berührung mit den Protagonisten. Diese sind wie Geister aus einer anderen Welt, einer anderen Wirklichkeit, die parallel aber vom imaginären hintergründigen Anstaltsleben nicht wahrnehmbar verläuft. Doch nicht ganz konsequent, ab und zu greift das stumme Personal ein, als wenn es Verstorbene versorgte. Die Dramatis personæ bleiben davon unberührt, sie funktionieren auf einer anderen intellektuellen Ebene, eingekapselt in ihrer Gefühlswelt, dramaturgisch so glaubwürdig aufgebaut, dass man die Ergriffenheit im Saal spürt. „Einfach genial“, sagt die Freundin.

Die Regie verzichtete auf die wortgetreue Textübersetzung. Stattdessen erscheinen auf der Szenenrückwand deutlich lesbare Erklärungen und Kommentare der jeweiligen Situation und einzelne Sätze der Dialoge, wenn sie dem Verstehen der Handlung auch tatsächlich dienen. Sie stören nicht, sind in der natürlichen Augenhöhe der Zuschauer ausgestrahlt, gut integriert in die Szene. Sie lenken von dem Geschehen nicht ab, man kann, man will sich ganz auf das Spiel konzentrieren, auf die Mimik, Gestik, den Gesang. – Jedes Detail in dieser Inszenierung ist wichtig, Agnès wird von Vera-Lotte Böcker gesungen, wie geschaffen für diese Rolle: mädchenhaft, zart, und auch fähig, Stärke zu zeigen, eine stimmsichere, sensible Schauspielerin. Den Protektor, ihren Mann, singt Andreas Jören. Den Jungen, zugleich einen der drei Engel, Bernhard Landauer. Die beiden übrigen Engel sind Anna Werle und Markus Gruber – allesamt ein sehr homogenes Ensemble mit hohen musikalischen und schauspielerischen Qualitäten.

Nach den bisher eher schwachen, nichtssagenden Detmolder Produktionen in dieser Spielzeit ist „Written on Skin“ eine geistreiche, intelligente Inszenierung der Superlative, ein Werk der gelungenen Symbiose der Musik und des Theaters. Ein Muss.

Jan Ochalski 19.4.14 FotosTheater Detmold