Linz: „La Juive“, Jacques François Fromental Halévy

Von 1822 bis 1873 war die „Salle Le Peletier“ in der gleichnamigen Straße im 9. Arrondissement das Haupt-Opernhaus von Paris, obwohl eigentlich nur als vorwiegend hölzernes Provisorium für wenige Jahre geplant. In diesen 50 Jahren seiner Existenz, unter verschiedenen Namen, fanden dort zahlreiche wichtige Uraufführungen statt, unter anderen auch der (üblicherweise pessimistisch getönten) Hauptwerke der „grand opéra“ von Rossini, Auber, Meyerbeer und Halévy.

Am 23. Februar 1835 feierte des Letzteren größter Erfolg, „Die Jüdin“, Uraufführung. Die Pariser Oper war ohnedies für Aufwand, Pracht und Innovationen bekannt; dieses Werk wurde aber auch aus dramaturgischen Gründen besonders reich ausgestattet, etwa mit 20 Pferden gleichzeitig auf der Bühne – denn es sollte die unüberwindliche Macht des Römischen Kaiserreiches um 1414 gegenüber der Familie des Goldschmiedes Eléazar hervorgehoben werden. Natürlich spielte auch der in Frankreich des 19. Jahrhunderts existierende Antisemitismus eine Rolle. Zu den vielen Bewunderern des Werkes zählten auch Gustav Mahler und Richard Wagner.

© Reinhard Winkler

In Linz war das Werk erstmals 1839 zu erleben, wurde dann mehrmals in den 1920ern an der Promenade produziert. Die aktuelle Premiere erfolgt mit dreijähriger coronabedingter Verspätung – und der Sänger des Eliazar, ausdrücklich in Hinblick auf diese Rolle ins Ensemble aufgenommen, mußte nicht nur so lange warten, sondern hatte zwischenzeitlich noch ein Gesundheitsproblem, das ihn fast die Rolle gekostet hätte.

Die Musikalische Leitung liegt in den Händen des französischen Dirigenten Yannis Pouspourikas, dessen erstes Operndirigat in Österreich diese Produktion ist.  Er trifft, von der bei geschlossenem Vorhang plastisch und musikalisch verführerisch gestalteten Ouvertüre an, mit dem klangschön, technisch perfekt, dynamisch und intensiv musizierenden Dirigenten Yannis Pouspourikas ganz wunderbar das Idiom der Grand Opéra. Er baut weite Spannungsbögen, wählt überzeugende Dynamik und tempi und ist den Sängerinnen und Sängern ein verlässlicher und aufmerksamer Partner. Insbesondere beeindrucken auch die präzisen und dabei ebenso dramatischen wie transparenten Ensembles – kurz: ein großartig gelungenes Debut!

Intendant Hermann Schneider kam im Zuge des mit zwei Partnerhäusern produzierten „Death in Venice“ (Britten) mit dem Chef der Oper von Nizza, Marc Adam, in Kontakt. Damals entstand die Idee dieser Produktion für Linz. Das Bühnenkonzept von Dieter Richter wurde im Zuge des coronaverhinderten ersten Anlaufes erstellt, nur mußte aus Termingründen zwischenzeitlich der Kostümbildner gewechselt werden; Sven Bindseil sprang ein. Man entschloss sich, die Bühne (nahe am Originalbuch) an gotischen Kathedralen zu orientieren, andererseits aber auch moderne Gestaltung für den kleineren Raum von Eléazars Haus einzusetzen, der, verwüstet, im 4. Akt auch als Gerichtssaal herhalten soll.

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Da oft große Chor- und Statistenmassen auf der Bühne sind, sah man von einer Spätmittelalter-Ausstattung ab, auch weil das mit den vielen Premieren des Landestheaters Werkstätten und wohl auch Budget überfordert hätte. Ähnlich bei Rückgriff auf die Entstehungszeit (zudem: Logik??) – und die Nazizeit schien dem Team denn doch zu grell (und ausgelutscht). Man einigte sich schließlich auf zurückgenommen-unverbindliche Moderne, die auch Raum für expressive und handlungsdienliche Abweichungen läßt, und das funktioniert in Handlungsablauf wie optischem Eindruck bestens, bis hin zum wahrhaft fürchterlichen und erschreckenden Finale. Nur im ersten Akt wird mit etwas grellen und zuletzt angesichts der antisemitischen Aufwallungen von „linker“ Seite nicht wirklich treffsicheren Hinweisen auf das Heute gearbeitet.

Da die Gesamtdauer samt 20minütiger Pause 3½ Stunden beträgt, sind etliche Striche gemacht worden, z. B. fehlen Kaiser Sigismund und das Ballett im 3. Akt – aber weder in Handlung noch musikalischem Ablauf oder Spannungsbogen wird das merkbar (Dramaturgie: Christoph Blitt). Daß im Finale auf die Delinquenten nicht ein Wasserkessel, sondern das unmittelbare Feuer wartet – geschenkt. Auch überlebt Eléazar; aber natürlich kann von Verbiegen zum happy end keine Rede sein – vielmehr setzt die Regie so einen gegenüber dem Original noch düstereren Akzent.

Die Personenführung ist sorgfältig nach Psychologie und Charakter ausgearbeitet und wird von Solisten wie Chor plastisch und detailreich umgesetzt. Zudem singen alle ausnahmslos sehr wortdeutlich und mit überzeugendem Französisch-Duktus, wofür neben dem Dirigenten Leonie Beck als Sprachcoach verantwortlich ist.

Bei der Einführungsveranstaltung der Musiktheaterfreunde zur Produktion vor zwei Wochen sagte der Dirigent, er kenne kein Haus, das die „Jüdin“ aus dem Ensemble besetzen könne – außer Linz. Rangmäßig angeführt wird dies von Ilona Revolskaya als Prinzessin Eudoxie, die, teils in von Dior Inspiriertes gekleidet, mit ihrem glockenhellen und präzisen Sopran besticht.

Erica Eloff ist auch als Rachel aufregend gut und bewegend – was kann diese Frau nicht perfekt auf die Bühne bringen?? Figaro-Gräfin, Fidelio/Leonore, Eva, Marietta, Nedda… immer perfekter Einklang von Schauspiel und stimmlicher Gestaltung, ihre Emotionen graben sich tief ins Publikum: eine Titelfigur, die ihresgleichen sucht.

Die vom Uraufführungs-Solisten Adolph Nourrit (auch auf schwierigste Effekte!) mitgeschriebene Rolle des Goldschmiedes Eléazar: Matjaž Stopinšek hat sie nun, seine anspruchsvolle Wunschrolle.  Und er „hat“ sie wirklich, ist ihr also ohne Abstriche, ohne hörbare Anstrengung als dramatischer Tenor gewachsen, natürlich und gerade mit dem Höhepunkt seiner Arie zum Ende des 4. Aktes, durch die er mit Intensität und ehrlicher Emotion, aber auch Samt und einer Prise Schmelz, den Saal füllt.

Dominik Nekel tut es ihm als Kardinal Brogny so gut wie gleich: er ist der großen Rolle gestalterisch sowieso gewachsen, und mit seiner beweglichen Stimme dem Eléazar das perfekte Gegenüber. Allenfalls im tiefsten Register könnte er noch etwas mehr Druck machen, schafft aber mit guter Technik insgesamt eine ausgeglichene tessitura.

Bislang nur von seiner lyrischen Seite, als Alfred und Almaviva, kannten wir SeungJick Kim; hier aber, als Reichsfürst Léopold, geht es schon ordentlich in Richtung spinto, und auch das kann er wunderbar, zusammen mit seiner exzellenten Höhe.

Der Konstanzer Großvogt Ruggiero, der seine Arbeit (oder seine Persönlichkeit?) nur mit einem gelegentlichen Griff zum Flachmann aushält, wird von Alexander York mit guter Stimme und gut kalkulierter darstellerischer Kühle in die Geschichte sehr gut passend gestaltet. Michael Wagner hat diesmal als Unteroffizier Albert zur Erholung von seinen sängerischen Großtaten, zuletzt als Barbiere-Bartolo, nur eine kleinere Rolle auszufüllen, was natürlich mühelos funktioniert. Weitere Rollen werden durch Chorsolisten (Youngcheol Kim, Marius Mocan und Michael Dimovskyi) sehr gut abgedeckt.

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Chor und Extrachor des Landestheaters (Leitung Elena Pierini und David Alexander Barnard) haben machtvolle Auftritte, unterstützt von der Statisterie des Landestheaters.

Immer wieder Szenenapplaus, immer wieder auch im Konflikt zwischen den erstklassigen, wahrlich applauswürdigen Gesangsleistungen und der soeben überzeugend geschaffenen Emotion, und schließlich große Begeisterung zum Schluß gab es langanhaltenden Beifall, besonders für Frau Eloff und die Herren Stopinšek, Nekel und Kim, Dirigent und Orchester. Aber auch das Produktionsteam wird einhellig gefeiert.

Petra und Helmut Huber, 7. März 2024

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)


Die Jüdin
Oper von Eugène Scribe

Musik von Jacques François Fromental Halévy

Landestheater Linz

Premiere am 2. März 2024

Regie: Marc Adam
Dirigent: Yannis Pouspourikas
Bruckner Orchester Linz