Besuchte Aufführung: 5. 6. 2014, (Premiere: 19. 4. 2013)
Publikumswirksames Handlungsballett
Ein wesentlicher Teil der Laibacher Oper ist das Ballett – das entnimmt man schon dem vollständigen Namen der Institution: „Slovensko narodno gledališče Opera in balet Ljubljana“ – auf Deutsch: „Slowenisches Nationaltheater für Oper und Ballett Laibach“. Es gibt an der Laibacher Oper schon seit 1919 ein eigenes Ballettensemble, wie man auf der Homepage des Hauses im Beitrag über die Geschichte des Hauses nachlesen kann. Dieses Ballettensemble hat derzeit immerhin rund 45 Mitglieder – eine wirklich beachtliche Zahl, vergleicht man dies etwa mit dem Landestheater Salzburg oder der Oper Graz – hier gibt es nur 17 bzw. 18 Ballettensemblemitglieder! Wenn man nun dieses große Laibacher Ballettensemble auf der Bühne erlebt, dann gehen einem zunächst jene Berichte durch den Kopf, die sich mit der wahrlich nicht leichten wirtschaftlichen und sozialen Situation der Tanzszene in unserer Zeit beschäftigen – das Goethe-Institut hat vor kurzer Zeit eine interessante Zusammenfassung über die Arbeitsbedingungen in Deutschland publiziert. Ich habe natürlich keinen Einblick in die Vertragssituation des Laibacher Ballettensembles – aber als interessierter Besucher kann man erfreut registrieren, dass es hier offenbar einen Theatererhalter gibt, dem es wichtig ist, die lange slowenische Balletttradition weiter zu pflegen, eine große Balletttruppe im Ensemble zu haben und damit auch großbesetzte Stücke im Spielplan anbieten zu können. Zum Traditionsbewusstsein des Laibacher Hauses passen wohl auch die Wahl des Stückes und die Wahl des Choreographen.
Coppélia ou La Fille aux yeux d’émail (deutsch Coppelia oder Das Mädchen mit den Glasaugen) wurde von Léo Delibes 1870 komponiert. Die Handlung basiert auf E. T. H. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann und war bei der Uraufführung in Paris ein triumphaler Erfolg. Bis heute gehört Coppélia zum Standardrepertoire des klassischen Balletts. In Laibach wurde die Fassung von Youri Vámos auf die Bühne gebracht – der in Ungarn geborene Tänzer und Choreograph Vámos zählt zweifellos zu den bedeutenden Persönlichkeiten der internationalen Tanzszene. Nicht umsonst ist er in der Publikation “Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts in einem Band” (erschienen in der arte edition) als “der wohl beste choreographische Geschichtenerzähler der Gegenwart” bezeichnet worden. Es lohnt sich, seine informative Homepage anzuschauen, auf der über seine Coppélia-Version zu lesen ist: Youri Vámos versetzt seine Coppélia in die Zeit der Belle Époque nach Paris, in die Stadt des Komponisten, dessen Musik ihn zu dieser Idee inspirierte.
Coppélius, ein alter Maler, verbringt den Abend in seinem Stammlokal, einem bekannten, verrufenen Etablissement am Montmartre, in dem der verbotene Cancan getanzt wird. Ein Grund für jeden »ehrbaren Bürger«, diesen Ort zu meiden. Es ist für ihn – wie so oft – ein sehr einsamer Abend. Er sehnt sich nach Jugend und Schönheit, Dinge, die für ihn nicht mehr erreichbar sind und nach der anmutigen Swanilda, die mit Franz, einem sympathischen, unbekümmerten Burschen aus der Nachbarschaft, befreundet ist. Im Gegensatz zu Coppélius sehnt sich dieser danach, endlich den berüchtigten Club – insbesondere die Cancan-Tänzerinnen kennenzulernen. Er hat nur ein Problem: er ist noch minderjährig. Coppélius verschafft nicht nur Franz Zutritt, sondern auch – durch den Kauf eines Abendkleides – Swanilda und löst eine turbulente Geschichte aus.
„Coppélia am Montmartre“ wurde 1981 an der bayrischen Staatsoper in München uraufgeführt und seither von vielen Häusern nachgespielt – z.B. 2003 in Düsseldorf und 2009 in Brünn/Brno. Für die Laibacher Produktion, die im Vorjahr ihre Premiere hatte, brachte Vámos sein bewährtes Kernteam mit: seine Assistentin (und Ehefrau) Joyce Cucco und den Lichtdesigner Klaus Gärditz. Die slowenischen Künstler Andrej Stražišar (Bühne) und Marija Kobi (Kostüme) haben das ursprüngliche Ausstattungskonzept (des Engländers Michael Scott) wieder belebt. Und das große Laibacher Ballettensemble hat eine eindrucksvolle und geschlossene Leistung geboten! Wie man dem Programmheft entnimmt, sind alle Rollen mehrfach besetzt – die Solisten wechseln einander in den verschiedenen Partien ab. Ich erlebte in den beiden Hauptpartien die Premierenbesetzung.
Die Laibacherin Ana Klasnja ist seit 2007 Solotänzerin des Hauses und war eine anrührende Swanilda – in zarter Zerbrechlichkeit, aber auch mit gebührender Autorität eine überzeugende Figur, die stets die Bühne beherrscht. Ihr Franz ist der aus Kärnten stammende Lukas Zuschlag , der ebenfalls seit 2007 Solotänzer in Laibach ist und der schon als 20-jähriger den Romeo getanzt hatte. Inzwischen hat er in Laibach auch als Sänger und Schauspieler geradezu einen „Promistatus“ erobert, wie eine Kärntner Zeitung schon vor über zwei Jahren in einem Artikel schrieb. Zuschlag war ein viriler Hauptdarsteller mit dynamischer Sprungkraft, aber auch mit lyrischer Leichtigkeit. Beide Protagonisten sind in den slowenischen Medien sehr präsent und wurden auch an diesem Abend vom Publikum im gut besuchten Opernhaus bejubelt. (Auch wenn man nicht Slowenisch kann, ist es nett, in ein Fernsehinterview hineinzuschauen, das die beiden aus Anlass der Premiere gegeben haben.)
Aber auch das übrige Ensemble präsentiert sich auf hohem Niveau – ob dies nun der kraftvolle Japaner Juki Seki als Polizeioffizier, Gregor Guštin als drastischer Bruder Swanildas oder der konzentriert den alten Maler Coppelius gestaltende Goran Tatar ist. Auch die vielen kleinen Episodenfiguren, die ständig die Bühne bevölkern, sind individuell gezeichnet – jeder ist Teil eines sich ständig wandelnden und immer lebensvollen Gesamtbildes. Großartig sind auch die prallen und temperamentvollen Ensembleszenen, wenn um Beispiel die Can-Can-Mädchen über die Bühne wirbeln. Und auch der skurrile Humor findet in der Gerichtsszene seinen gebührenden Platz.
Aber daneben gibt es auch immer wieder berührende Ruhepunkte – etwa im letzten Bild, wenn der alte Coppelius in Träume versinkt und sich gleichsam in der Verkörperung des jungen Hans wiederzuerkennen vermeint. Da zeigt zum Violin-Solo das wiedervereinte Paar Swanilda/Hans „Pas de deux“-Kunst auf hohem Niveau. Dieses Violin-Solo spielt der Konzertmeister des Laibacher Opernorchesters mit saftig-kräftigem Strich – da hätte man sich vielleicht etwas mehr melancholisch-parfümierte Verhaltenheit gewünscht.
Das Orchester leitete offenbar (entgegen der Ankündigung im Programm) der Dirigent der Premiere Marko Gašperšič – ein überaus erfahrener und sicher koordinierender Kapellmeister. Vieles erklang recht klangschön – etwa die einleitenden Hornphrasen. So wie beim Violinsolo fehlte allerdings auch beim gesamten Orchesterklang ein wenig das französische Raffinement. Das Publikum reagierte mit viel Beifall – es wäre zu wünschen, dass diese rundum gelungene Produktion auch auf dem Spielplan der nächsten Spielzeit steht.
Hermann Becke, 7.6. 2014
Szenenfotos: SNG OPERA IN BALET LJUBLJANA (Hier gilt dem Pressebüro der Laibacher Oper besonderer Dank – es gab viele ausgezeichnete Fotos der Besetzung dieser konkreten Repertoireaufführung!)
Videoclip der Laibacher Aufführung