Luzern: „La Cenerentola“

Opera buffa/semiseria in zwei Akten | Musik: Gioachino Rossini | Libretto: Jacopo Ferretti, nach Perraults Märchen CENDRILLON (Aschenputtel) | Uraufführung: 25. Januar 1817 in Rom

Wie immer bei Rossini (1792-1868) musste es schnell gehen. Das Werk (entstanden ein Jahr nach dem aus Intrigengründen leicht verzögerten Erfolg des BARBIERE DI SIVIGLIA) wurde in der unglaublich kurzen Zeit von nur drei Wochen komponiert. Selbst am Tag der Uraufführung fügte Rossini noch Duette und Arien ein, zum Teil verwendete er Stücke aus früheren Werken (war damals durchaus Usus) oder liess einen Mitarbeiter Rezitative und Arien schreiben, welche er aber für eine spätere Aufführung wieder aus der Partitur entfernte. Der Uraufführung in Rom war nur ein mittelmässiger Erfolg beschieden, doch bereits die weiteren Vorstellungen fanden den Gefallen des römischen Publikums. Die Oper verbreitete sich zu Beginn des 19.Jahrhunderts schnell über den Kontinent und nach New York. Ab Mitte des 19.Jahrhunderts wurde es jedoch immer schwieriger, die Rolle der Angelina zu besetzen, da es am Stimmtypus des Koloratur-Alts mangelte. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kehrte diese Oper (die nicht nur buffoneske Züge trägt!) wieder auf die Bühnen zurück, dank so herausragender Interpretinnen wie Giulietta Simionato, Teresa Berganza, Agnes Baltsa, Cecilia Bartoli oder in jüngster Zeit Joyce diDonato und Elina Garanca. Neben der virtuosen Schlussarie der Angiolina prägen die irrwitzigen, sich schraubenartig steigernden Ensembles die einfallsreiche Partitur – ein Juwel unter den zahlreichen Werken des Maestros. Stendhal mag etwas übertrieben haben in seiner Würdigung Rossinis, doch ein Funken Wahrheit steckt schon drin: „Seit dem Tod Napoleons wurde ein weiterer Mensch gefunden, über den man Tag für Tag in Moskau wie in Neapel, in London wie in Wind, in Paris wie in Kalkutta spricht. Der Ruhm dieses Mannes kennt keine Grenzen ausser denjenigen der Zivilisation.“ (Stendhal, Vorwort zu VIE DE ROSSINI)

Es gibt sie also noch, die Opernabende, die man ungetrübt geniessen kann, die weder langweilig verstaubt noch kopflastig verquer daherkommen und trotzdem „modern“ sind, die Aufführungen, die umwerfend unterhaltsam und urkomisch sind und doch ohne billige Plattitüden auskommen. Dem britischen Regisseur Sam Brown und seinem Team (Bühne und Kostüme: Annemarie Woods, Choreografische Mitarbeit: Bert Uyttenhove, Licht: David Hedinger) ist am Luzerner Theater mit Rossinis LA CENERENTOLA ein solcher Abend geglückt. Sie haben ein Konzept gewählt, das geradezu sensationell gut funktioniert. Don Magnifico betreibt mit seinen Stieftöchtern einen heruntergekommenen Fastfood-Wagen vor einer Saalsporthalle (PALACE), in welcher die Tischtennismannschaft rund um den amtierenden Champion Prinz Ramiro trainiert. Der tauscht seine goldene Jacke samt Medaillensatz jedoch mit der pinkfarbenen Vereinsjacke seines Kumpels Dandini. Für die proletenhaften, faulen Töchter Magnificos wäre es das höchste der vorstellbaren Gefühle, diesen Champion ehelichen zu dürfen. Was nun folgt, ist ein – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – virtuoser Ballwechsel nach dem anderen. Schlagabtausch folgt auf Schlagabtausch, jede Geste, jede Regung, jede Koloratur wird auf den musikalischen Punkt genau mit unglaublicher Lebendigkeit und Natürlichkeit eingesetzt, in einen Ablauf und eine Choreografie eingebunden, die einem vor lauter Präzision und Spiellust manchmal beinahe den Atem stocken lassen. Um all die augenzwinkernd doppelbödig eingearbeiteten Subtilitäten aufzuzählen, fehlt hier der Platz, das kann man auch kaum beschreiben, das MUSS man gesehen und gehört haben. Vom running gag mit dem Rubik’s Cube über das Spiel mit der Mayonnaise, dem Strip des Cops (Alidoro), dem entscheidenden Tischtennis-Match, bei dem Angiolina mit Hilfe des magischen Balls von Alidoro sprichwörtlich alle vom Platz fegt, dem earthquake zur Gewittermusik, dem Unfall der carrozza (das Tandem des Prinzen hat einen Platten) folgt ein szenischer Höhepunkt und amüsanter Einfall (das Armband als Pfand ist das Schweissband der Tennisspielerin) dem andern – und die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne werfen sich die Pointen wie Bälle beim Tischtennis zu. Und stets kommt die Inspiration zur Aktion aus und von der Musik Rossinis, sie wirkt nie aufgesetzt oder peinlich.

Der musikalische spritus rector der Aufführung ist Luzerns Musikdirektor Howard Arman. Er hat die Fäden souverän in der Hand, spinnt ein Gewebe, das sowohl feinsinnig als auch deftig und süffisant sein kann. Auch im Orchestergraben spielen sich die einzelnen Instrumentengruppen die Bälle wunderbar diszipliniert, mit frischer Lebendigkeit und präzisem Witz zu. Streicher und Holzbläser bringen die rossinischen Kostbarkeiten exquisit zum Klingen, der Dirigent schraubt die typischen crescendi herrlich hoch, spitzt fulminant und rasant zu – fordert damit die Geläufigkeit der Gurgeln und Artikulationskünste seiner Sängerinnen und Sänger aufs Äusserste – aber nie darüber hinaus! Und was für ein erstklassiges Septett agiert und singt da auf der Bühne! Allesamt Mitglieder des sorgsam gehegten und gepflegten Ensembles des Luzerner Theaters, welche ideal besetzt sind, ausnahmslos in ihren Rollen glänzen können und am Ende zu Recht gefeiert werden. Als Angiolina (Cenerentola) erlebt man Marie-Luise Dressen in einer Partie, die ihr auf den Leib und die Stimme geschrieben scheint, prall und doch mit samtenem Dunkel im Timbre, virtuos, aber nicht übertrieben oder manieriert ausschmückend in den Koloraturen, die resolute und doch leicht linkische Haltung des gross gewachsenen Mädchens gekonnt und auch sexy ausspielend. Dieses Mädchen für alles ist auch physisch stark gefordert, muss sie doch z.B. mit dem Fahrrad den Burger-Wagen ziehen, Das Tischtennis-Spiel erlernen, den Prinzen verarzten (dem blutenden Dandini hingegen hilft sie bewusst nicht!) und gleichzeitig Rad wechseln. Auch die schwierige Schlussarie meistert sie mit blendender Souveränität. Bei der moralisierenden Einleitung dazu wenden sich zwar alle noch lieber dem im Hintergrund stattfindenden Tischtennis-Turnier zu, doch sobald die Arie in Fahrt kommt und die Koloraturen so verblüffend leichtfüssig zu perlen beginnen, geraten sogar Stiefvater und Stiefschwestern in Verzückung (das Publikum ist eh schon in ihrem Bann!) und lassen sich wie Marionetten von Angiolina manipulieren und gefügig machen. Umwerfend komisch sich gegen dieses selbstbewusst-gütige Wesen abhebend sind ihre beiden zickigen, Kaugummi kauenden und das Höschen zeigenden Proll-Schwestern Clorinda (Dana Marbach) und Tisbe (Carolyn Dobbin) gezeichnet, welche mit ihren wunderbar durchschlagskräftigen Stimmen die von Rossini so souverän in Noten gesetzten Ensembles aufs Herrlichste bereichern. Die Männer stehen diesen drei „Bühnentieren“ in nichts nach. Utku Kuzuluk als Champion Ramiro lässt sich auf jeden Spass ein, der ihm durch die Verwechslungskomödie aufgezwungen wird, erklimmt freihändig und ungebremst auf dem Tandem die höchsten Töne, beglückt mit seinem hell gefärbten, leicht und unangestrengt geführten, geläufigen Tenor. Todd Boyce gefällt sich sichtlich in der Rolle des falschen Champion, kostet seine vorübergehende Macht und den damit verbundenen Sex-Appeal voll aus und verströmt puren Wohlklang mit seinem fantastisch präzise eingesetzten, warmen Bariton. Als Alidoro präsentiert sich Flurin Caduff mit sonorem, einnehmendem Bassbariton in seinen verschiedenen Verkleidungen: Versiffter Obdachloser, strippender Cop, smarter Team-Captain. Klasse! Und last but by far not least Patrick Zielke als Don Magnifico, ein Bassbuffo allererster Güte. Die kraftvolle, sicher sitzende, robuste und doch erstaunlich leichtfüssig daherkommende Stimme mit grandioser Virtuosität eingesetzt, zeichnet er ein stolzes Porträt dieses heruntergekommenen konkursiten Heuchlers. Höhepunkt ist zweifelsohne sein Nasenbohren und das anschliessende Gespräch mit dem „gefangenen“ Popel im zweiten Akt (inklusive Anbändelns mit der ältlichen Jungfer Schiedsrichterin). Herzerfrischend komische Auftritte hat auch der Herrenchor des Luzerner Theaters (Einstudierung: Mark Daver) in seinen so herrlich geschmacklos-biederen Trainingsanzügen.

Angiolina (la Cenerentola) lebt im Haus ihres Vaters Don Magnifico mit ihren beiden Stiefschwestern Tisbe und Clorinda. Von den Stiefschwestern als dumme Magd missbraucht und vom Vater geringgeschätzt, führt sie ein tristes Dasein als Sklavin, unterdrückt in ihrer weiblichen Entfaltung. Als der Lehrer des Prinzen, Alidoro, als Bettler verkleidet die Umgebung des königlichen Schlosses nach heiratsfähigen Töchtern absucht, steckt ihm Anglina etwas zu essen zu. Dafür wird sie von ihren Stiefschwestern mal wieder gehauen. Abgesandte des Prinzen überbringen eine Einladung zu einem Ball im Schoss und die Mitteilung, dass sich der Prinz anlässlich des Balls für seine Zukünftige entscheiden werde. Tisbe und Clorinda sind ausser sich, wecken den Vater auf und sehen sich bereits als Fürstinnen. Der Prinz Don Ramiro schleicht sich als sein Diener verkeidet ins heruntergekommene Haus von Don Magnifico und entbrennt sogleich in Liebe zu Angiolina. Dandini, der Diener, wiederum tritt als Prinz verkleidet auf und führt die aufgeputzten Schwestern zum Ball. Angelina darf nicht mit, obwohl Don Magnifico mit der Tatsache konfrontiert wird, er habe doch drei Töchter. Magnifico sagt, die dritte sei gestorben. Alidoro jedoch bringt Angiolina zum Ball. Dort ist das Fest in vollem Gange. Magnifico hat sich durch den Weinkeller gesoffen, die Stiefschwestern streiten sich um die Gunst des (falschen) Prinzen. Der Incognito-Auftritt Angiolinas verunsichert die Gäste.

Angiolina wendet sich dem Diener (Prinzen) wiederum zu und gibt ihm einen Armreif. Wenn es ihm ernst sei, soll er sie suchen. Dann verschwindet sie. Dandini und Ramiro nehmen ihre wirklichen Rollen wieder an, zur Verwirrung von Don Magnifico und seinen Töchtern. Sie kehren nach Hause zurück. Kurze Zeit darauf bleibt die Kutsche des Prinzen während eines Gewitters in der Nähe von Don Magnificos Haus stecken. Der Prinz und Angiolina werden nun ein Paar, Magnifico und seine Töchter fürchten die Rache Angiolinas. Doch diese lässt die Güte über die Vergeltung triumphieren.

Fazit: Auf nach Luzern!!! Eine vor Witz nur so sprühende Aufführung, spritzig und musikalisch mit grösst möglicher Sorgfalt gestaltet, umgesetzt von einem Ensemble, das an sängerischer Kunstfertigkeit und darstellerischer Wucht keine Wünsche offen lässt. Weitere Aufführungen in Luzern: 2.6. | 5.6. | 7.6. | 15.6.2013 und Wiederaufnahme in der nächsten Spielzeit

Kaspar Sannemann, 02. Juni 2013
Fotos: Ingo Höhn

Originalbeitrag unter: http://www.oper-aktuell.info/