Der eine Tonsetzer hat Angstzustände beim Komponieren, der andere mag das Soloinstrument seiner Komposition nicht und der andere behauptet, keine schöne Musik zu schreiben. Schräge Randerscheinungen am Rande des Musikbetriebs? Nein – echte Meister, darunter zwei mit besonderen Jahrestagen!
Wer sich auf grundverschiedene Klangfarben einlassen konnte, der erlebte am 24. November 2024 in der Lübecker Musik- und Kongreßhalle das 3. Symphoniekonzert der Saison als besonders abwechslungsreich und in der Ausführung perfekt umgesetzt.
Unter der Leitung des ersten Kapellmeisters Takahiro Nagasaki gab das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck ein eigenwilliges Programm; bei zwei Kompositionen brillierte der griechische Flötist Stathis Karapanos.
Frank Martin, dessen 50. Todestag dieses Jahr begangen wird, beschrieb einmal die „unvermeidlichen Angstzustände während der Komposition“, aber auch das Vergnügen dabei; fraglich war für ihn nur, ob sich dies Vergnügen auch auf seine Hörer übertragen würde. Die Bewältigung technischer Probleme stand bei Martins Arbeit im Vordergrund, weniger der Inhalt. Wenn man ein Stück dann „Ballade“ nennt, so erwartet man die Umsetzung einer gedichteten Geschichte. Was also ist das Wesen seiner nur siebenminütigen Ballade für Flöte, Streichorchester und Klavier?
Das als Wettbewerbsstück 1939 auf Anfrage des internationalen Musikwettbewerbs in Genf komponierte Mini-Konzert sollte alle Qualitäten der Flötisten, die an diesem Wettbewerb teilnahmen, insbesondere die technischen Aspekte der Flöte, hörbar machen. „Balladenhaft“ ist vielleicht gerade mal die rhapsodische Form. Wie ein Tintentropfen, der in ein Glas bewegten Wassers fällt, verquirlen sich anfangs die melodischen Linien, dann drängt das Ganze dynamisch nach vorne; die Reduktion auf den Dialog des Soloinstruments mit den Streichern und die reizvolle Klavierbegleitung gibt dem Werk klare Struktur und schafft deutliche Akzente. Karapanos spielt seine Flöte dominant und bewußt charakteristisch mit Ecken und Kanten. Die eigenwilligen Rhythmen beherrscht er souverän und glänzt verdient selbstbewußt in der Kadenz. Aber das Zusammenspiel mit dem Orchester gelingt auch bei diesem eigenwilligen Stück überzeugend, Nagasaki hält alles mit absoluter Konzentration und Hingabe zusammen.
Wie ein im Plüschfauteuil eines Wiener Kaffeehauses genossener Einspänner mit Schlagobers kommt nach dem Eingangsstück Mozarts 2. Konzert für Flöte und Orchester herüber. Mozart mochte die Flöte bekanntlich nicht, aber gelungen sind seine beiden Konzerte für dieses Instrument selbstverständlich und kein Mozartkenner würde auf sie verzichten wollen.
Karapanos spielt sein Instrument nun ganz geschmeidig intoniert und mit Rokoko-artiger Vergoldung jedes einzelnen Tons. Wichtig ist bei einem so oft aufgeführten Stück ein flottes und frisches Tempo, und dem entsprechen Solist und Orchester erfreulich schwungvoll. Dabei bleibt Karapanos stets exakt und würdigt jede Note. Wie Vogelgesang schweben seine Solopartien im Raum.
Das Finalrondo erinnert in seiner Melodik an die Klangwelt der „Entführung aus dem Serail“ und so nimmt der Solist mit tänzerischer Leichtigkeit den 2/4-Takt in sein Spiel auf, wobei er manche Töne zwar nur anhaucht, aber sie dennoch deutlich hörbar in den Saal entläßt.
Karapanos´ Wiedergabe belohnen die Lübecker mit begeistertem Applaus und er beantwortet den Beifall mit einer reizvollen Piazzolla-Zugabe – selbstverständlich mit erneut ganz eigener Klangfarbe.
Schönbergs kantiger Charakter trieb seine Mitmenschen manchmal zur Verzweiflung oder rief wenigstens verwundertes Kopfschütteln hervor. Bekanntgeworden ist seine ruppige Antwort auf das Kompliment des US-amerikanischen Produzenten Irving Thalberg, der seine Musik als „schön“ beschrieb: „Ich schreibe keine schöne Musik!“
In der Tat wird man Schönbergs Kompositionen aus der Periode jenseits seines spätromantischen Frühwerks eher selten mit dem Adjektiv „schön“ beschreiben, aber in der Verklärten Nacht, den Gurre-Liedern und eben Pelleas und Melisande glänzt und schimmert doch eben diese goldene Schönheit, die das Gemenge aus Melancholie, Schwärmerei und Drama zauberisch durchflutet, diese für die Wiener Sezession so typische rauschhafte Klangsprache, die auch die Werke Schrekers und Zemlinskys charakterisieren und die Hörer soghaft ins Sinnlich-Morbide hinabziehen.
Schönbergs Vertonung von Maurice Maeterlincks gleichnamigem Drama malt großformatige, düstere Bilder einer unglücklichen Liebesgeschichte, die auch ein symbolistischer Künstler hätte malen können. Es ist ein tragisches Märchen und anders als Debussy formte Schönberg daraus keine Oper, sondern eine symphonische Dichtung. In jeweils eigenen, an Wagners Technik erinnernden Leitmotiven werden Figuren und Schlüsselmomente der Dichtung charakterisiert, was dem Werk eine greifbare Struktur verleiht. Diese Motive umfaßt eine symphonische Form mit entsprechend großem Orchester. Damit diese Struktur auch verstanden wird, bat Schönberg seinen Schüler Alban Berg, eine „kurze thematische Analyse“ des Werks zu verfassen. Das mag für das Publikum der Jahrhundertwende sinnvoll erschienen sein (Schönbergs 150. Geburtstag wird ja dieses Jahr gefeiert), heutige Hörer sind ergriffen und dankbar für einen so eingängigen Schönberg.
Ergreifend ist in jedem Falle die Wiedergabe dieser Klangschönheit durch die Lübecker unter Takahiro Nagasaki, der das Werk auswendig dirigiert. Meist mit geschlossenen Augen schwimmt er mit weiten Armbewegungen und biegsamem Leib durch die Partitur; er geht völlig in der Musik auf, ist dabei aber hochpräsent und gibt seine Einsätze in konzentrierter Leidenschaft. Auch bei den Tutti- und Fortissimo-Stellen sind alle Instrumente und Gruppen klar voneinander differenzierbar; aus all der Fülle dringen jähe Aufschreie und verursachen Gänsehaut am ganzen Leib. Erste Geige sowie die Stimmführer in den Celli und Bratschen liefern in ihren Soli erstklassige Leistungen ab.
Ehrlich gestanden – allein dafür hatte sich der Konzertbesuch gelohnt, aber gerade durch die Entgegensetzung so grundverschiedener Werke entstand ein faszinierendes Gesamtbild. Das Publikum lohnte es dem Orchester und seinem Dirigenten (der am Abend zuvor eine atemberaubende „Semele“ geleitet hatte), mit minutenlangem, begeistertem Applaus.
Andreas Ströbl, 26. November 2024
Frank Martin, Ballade für Flöte, Streichorchester und Klavier
Wolfgang Amadeus Mozart, Konzert für Flöte und Orchester Nr. 2 D-Dur KV 314
Arnold Schönberg, Pelleas und Melisande
Lübeck: Musik- und Kongreßhalle
24. November 2024
Querflöte: Stathis Karapanos
Musikalische Leitung: Takahiro Nagasaki
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck