„27. Musikfest Bremen“, Teil 1

Europäische Barockopern und anderes

Das Konzert der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen stand unter dem Motto „American Spirit“ und hatte Werke von Samuel Barber, Michael Daugherty und Aaron Copland im Programm. Gleich mit dem Essay Nr. 1 op. 12 von Barber begeisterte die Kammerphilharmonie unter der Leitung von Kristjan Järvi mit dem samtigen Klang der dunklen Streicher. Die elegische Melodie des Andante Sostenuto wird machtvoll gesteigert, gefolgt von dem eher kecken Allegro Molto. Manchmal scheint im Orchestersatz eine Spur von Dvoraks „Neuer Welt“ aufzublitzen.

Die „Letters from Lincoln“ für Bariton und Orchester hat der Komponist Michael Daugherty (*1954) eigens für Thomas Hampson geschrieben, der sie 2009 auch in seiner Heimatstadt Spokane uraufgeführt hat. In diesem siebenteiligen Liederzyklus hat Daugherty Reden, Briefe und Gedichte von Abraham Lincoln mit einer sehr eindringlichen, oft berührenden Musik versehen. Es beginnt mit dem rein orchestralen „Funeral Train“, also mit Lincolns Beerdigung. Die dann folgenden Lieder sind sehr unterschiedlich, im Charakter und in der Länge. „Abraham Lincoln ist My Name“ ertönt in einem gewitzten Country-Stil und erinnert daran, dass Lincol in seiner Jugend gern der Fiddler-Musik lauschte. Ergreifend in seiner Schlichtheit und Wahrhaftigkeit ist das Lied „Letter to Mrs. Bixby“, in welchem Lincoln einer Mutter, deren Söhne im Krieg gefallen sind, in einem Brief Trost spenden will. Überhaupt der Bürgerkrieg: In manchen Liedern tönen die militärischen Trompeten-Signale wie Fratzen eines Albtraums auf. Bei dem letzten Lied „Gettysburg Address“, das reinzeitlich so lang ist wie die anderen Lieder zusammen, handelt es sich um Lincolns berühmte Rede zur Einweihung des Soldatenfriedhofs in Gettysburg. Es ist eine berührende und aufrüttelnde Rede, die Daugherty in feierliche, dann wieder dramatische Musik gegossen hat. Thomas Hampson sang den gesamten Zyklus mit intakter Stimme, mit unglaublicher Intensität und starker emotionaler Beteiligung. Da hatte jede Phrase Gewicht und Bedeutung. Ein bemerkenswerter Lied-Zyklus.

Etwas anderen Charakter haben die „Old American Songs“ von Aaron Copland. Copland hat zwei Gruppen von jeweils fünf Liedern geschrieben. Hampson sang hier nur die der ersten Gruppe. Es handelt sich um traditionelle amerikanische Folksongs, die Copland für Orchester eingerichtet hat. „The Boatmen’s Dance“ ist eine tänzerisch geprägte Referenz an die Schiffer auf dem Ohio. Mit dem Lied „The Dodger“ („Der Schwindler“) sollte in 1880er Jahren ein republikanischer Politiker lächerlich gemacht werden. Hampson ließ es sich nicht nehmen, vor dem Hintergrund des aktuellen Wahlkampfs in den USA, auf die Aktualität dieses Liedes hinzuweisen. Besinnliche Klänge gab es bei dem melancholischen Liebeslied „Long Time ago“ und bei „Simple Gift“, wo Schlichtheit und Dankbarkeit gepriesen werden. Hampson sang diese Lieder mit schönen Bögen. Auch wenn die Stimme an manchen Stellen und in der Höhe nicht ganz ungefährdet klang, wurden die Lieder dank Hampsons Persönlichkeit und dank seiner Kunst der differenzierten Interpretation zu einem künstlerischen Hochgenuß. Für den Schluß hatte sich Hampson das witzige Lied „I bought me a Cat“ aufbewahrt, wo er seinem komödiantischen Talent freien Lauf lassen konnte. Es ist ein Lied im Stil von „Old McDonald had a Farm“, wo in jeder Strophe neue Tierstimmen hinzugefügt und imitiert werden. Hampson machte sich und den Zuhörern damit ein wirklich „tierisches“ Vergnügen.

Bei den „Four dance episodes“ aus dem Ballett „Rodeo“ von Aaron Copland standen dann Dirigent Kristjan Järvi und die Deutsche Kammerphilharmonie im Mittelpunkt. Und sie haben bei dieser effektvollen, mitreißenden Musik denn auch alle Register gezogen. Wie Järvi tänzelnd und hüpfend dirigierte, war eine Show für sich. Da stand das temperamentvolle „Buckaroo Holiday“ neben dem getragenen „Corral Nocturne“ und dem gemäßigten und gebändigten „Saturday Night Waltz“, bevor in „Hoe Dawn“ wahre Volksfeststimmung entfacht wurde. Den alkoholbedingten Kater hat Copland in einer witzigen Episode gleich mitkomponiert. Dem begeisterten Beifall folgte mit der Ouvertüre zu Bernsteins „Candide“ als Zugabe ein weiteres Prachtstück amerikanischer Musik. Und so pointiert und spritzig wie hier hat man es lange nicht gehört. (31.08.2016)

In der Zielgeraden setzte das 27. Musikfest Bremen mit europäischen Barockopern einen weiteren Schwerpunkt. Italien war mit „L’ Orfeo“ von Claudio Monteverdi vertreten. Das 1607 anlässlich des Geburtstages des Herzogs Francesco Gonzaga in seinem Palast in Mantua uraufgeführte Werk gilt als erste Oper (Monteverdi nannte sie „Favola in musica“) der Musikgeschichte, obwohl das wahrscheinlich doch die leider nicht erhaltene Oper „Dafne“ von Jacopo Peri im Jahr 1597 war. Wie auch immer – das über 400 Jahre alte Werk wird auch heute noch gespielt und taucht regelmäßig in den Spielplänen auf. Der Orpheus-Mythos ist mannigfach vertont worden und hinlänglich bekannt. Orpheus verliert seine ihm gerade angetraute Eurydike durch einen Schlangenbiss, Er steigt in den Hades hinunter, um sie zurückzuholen. Das scheint zu gelingen. Sie darf ihm folgen, er darf sich aber nicht nach ihr umdrehen. Ein Geräusch verführt ihn aber genau dazu. Eurydike ist endgültig verloren, Orpheus kehrt allein und verzweifelt in die irdische Welt zurück. Für den Schluss gibt es verschiedene Versionen. Bei Gluck sorgt der Liebesgott Amor für ein glückliches Ende und Eurydike kehrt doch noch zu Orpheus zurück. Bei Monteverdi hingegen führt Apollo, der Vater des Orpheus, ihn in den Himmel, wo er Eurydikes Schönheit im Glanz der Sterne erkennen und preisen kann. Seligkeit also nur im Himmel – ein Ende, das wahrscheinlich auch der Kirche gefallen hat. Es gibt aber in der antiken Mythenwelt noch einen anderen Aspekt für diesen Schluss. Pluto, der Herrscher der Unterwelt, hat an Eurydikes Freigabe die Bedingung geknüpft, dass seine Gattin Proserpina nicht mehr in die irdische Welt dürfe, wo sie aber als Fruchtbarkeitsgöttin wirkte. Eurydikes Rückkehr hätte also das Ende der Menschheit bedeutet.

Die Oper beginnt mit einer von Trompeten geschmetterten Fanfare (Gonzaga-Fanfare), dem klingenden Wappen der Familie Gonzaga. Ein hübscher Einfall war es, dieses Thema vor Beginn der Aufführung im Treppenhaus der Glocke von den Bläsern des Orchester L’Arpeggiata statt des Einklingelns spielen zu lassen. Bayreuth lässt grüßen.

Zu bewundern ist die kunstvolle Instrumentierung Monteverdis, der die heitere Welt der Schäfer und Nymphen vor allem mit Streichern und Flöten, die dunkle des Hades vorwiegend mit Posaunen, Trompeten, Zinken und Orgel zeichnet. Zu bewundern ist aber auch, wie Christina Pluhar am Pult des von ihr gegründeten Ensembles L’Arpeggione diese Musik zum Leben erweckt. Da werden feinste Nuancen herausgearbeitet. Die einzelnen Instrumente oder Gruppen musizieren sehr differenziert und blitzsauber. Pluhars Interpretation ist von solcher Lebendigkeit und hat teilweise so viel Schwung, etwa in dem immer schneller gesteigerten Finale, das man der Musik ihr Alter kaum glaubt. Das heißt aber nicht, dass sie den tieftraurigen Momenten keinen Atem lässt. Die Verzweiflung und Trauer von Orpheus wird mit breitem Tempo und großer Ernsthaftigkeit eindringlich umgesetzt. Pluhar und ihre Musiker sind anerkannte Spezialisten – und das ist in jedem Moment der Aufführung zu hören. Hier wird ein bekannter Mythos berückend und vital zum Klingen gebracht.

Elf Sängerinnen und Sänger werden aufgeboten. Einige davon teilen sich die kleineren Solopartien oder fügen sich als Chor zusammen. In der Titelrolle ist der gerade mit dem Preis des Musikfestes ausgezeichnete Tenor Rolando Villazón zu erleben. Villazon hat eine große Schwäche für Monteverdi, die er schon beim Musikfest 2014 unter Beweis stellte. Aber es sind zwei Welten, die da aufeinander trafen: Die strenge, klar strukturierte Musik Monteverdis und das Temperament Villazóns, das diesmal, wohl weil er aus den Noten sang, einigermaßen gezügelt war. Blutarm ist Villazons Zugang zu dieser Musik jedenfalls nicht. Stimmlich kann er (trotz einiger „Kratzer“) vor allem mit seiner bronzefarben timbrierten Mittellage und seiner emotionalen Gestaltung überzeugen.

Magdalena Kožená sorgt als Messagiera, die die Nachricht von Eurydikes Tod überbringt, für stimmlichen Balsam. Sie hat einen Mezzo, der wie Samt und Seide klingt und den sie stilsicher einsetzt. Die relativ kleine Partie der Eurydike ist bei Giuseppina Bradelli, die auch die allegorische Figur der Hoffnung verkörpert, gut aufgehoben. Besonders hervorzuheben ist Céline Scheen, die als La Musica und Prosperina mit ihrem schönen Sopran und ihrer Ausstrahlung sofort bezaubert. João Fernandes hat für den Fährmann Caronte fahle, geisterhafte Töne zur Verfügung, und Dingle Yandell trumpft als Pluto mit satt-schwarzem Bass auf. (03.09.2016)

Er macht es spannend bei seinem Abend mit Werken von Jean Philippe Rameau, der griechisch-russische Dirigent Teodor Currentzis. Nachdem sein Orchester MusicAeterna auf der Bühne der Glocke Platz genommen hat, verlöscht die Saalbeleuchtung komplett. Nur die Notenpulte der wenigen Musiker, die das erste Stück “La Cupis“ intonieren, sorgt für etwas Licht. Dann geheimnisvolle Paukenschläge im Dunkel, während Currentzis sich „heimlich“ an sein Pult schleicht. Dabei ist das Motto des Abends „The Sound of Light“…

Aber dann bricht es richtig los. Die Ouvertüre zu „Zaïs“ ist ein eindringliches, streicherbetontes Stück, das in der Lesart von Currentzis Wucht und Intensität entwickelt. Intensität prägt den gesamten Abend. Currentzis, der optisch eine Art Gothic-Look pflegt, dirigiert mit dem ganzen Körper. Seine physische Ausdruckskraft, mal geduckt wie eine Katze auf dem Sprung, mal mit weitgeschwungenen Gesten, überträgt sich unmittelbar auf die Musiker, die zum großen Teil im Stehen spielen. Die „wogenden“ Körper der Musiker im Fluss der Musik haben eine zusätzliche Wirkung von großem Reiz. Und die Musik von Rameau – Ouvertüren, Suiten und Arien – ist von höfisch-gezähmter Barockmusik meilenweit entfernt. Es ist eine immer kraftvolle, oft von tänzerischem Rhythmus durchzogene Musik, die vom Orchester MusicAeterna mit großer Farbigkeit, mit präziser Klangentfaltung und vor allem mit unglaublicher Stoßkraft dargeboten wird. Etwa die fulminante Ouvertüre zu „Naïs“, bei der vom Orchester Blitz und Donner entfacht werden, wobei die Musiker zusätzlich mit den Füßen auf den Boden stampfen. Ein toller Effekt! Bemerkenswert auch die beredte Orchestersprache bei „La Poule“ („Die Henne“) aus der Suite G-Dur – später hat Haydn in seiner Symphonie Nr.83 diesem Federvieh ein Denkmal gesetzt. Vor der Pause sind „Contredanse en rondeau“ aus „Les Boréades“ das letzte Stück. Dabei marschieren Dirigent und Orchester, den Rhythmus des Tanzes weiter spielend, von der Bühne. Ein bisschen Show darf eben auch sein.

Die hier präsentierten Ausschnitte aus Opern und Balletten wie „Zoroastre“, „Hippolyte et Aricie“, „Dardanus“ oder „Les Indes galantes“ machen jedenfalls Appetit auf das ganze Werk, zumindest, wenn es so dargeboten wird wie von Currentzis und MusicAeterna.

Aber Gesang gibt es hier auch. Die renommierte Sopranistin Robin Johannsen glänzt mit Arien aus „Hippolyte et Aricie“, „Platée“, „Dardanus“ und „Castor et Pollux“. Sie hat einen technisch sicher geführten Sopran, ein schönes Timbre und einen in der Höhe aufstrahlenden Jubelton. Ihre Darbietung wird mit viel Empfindung und beweglichen Koloraturen zu reinstem Genuss. Am schönsten und sehr berührend gelingt ihr „Tristes apprêts, pâles flambeaux“ aus „Castor et Pollux“. Es ist ein tieftrauriger Klagegesang, den Johannsen mit ebenmäßig strömender Stimme, mit großen Gesangsbögen und tiefsten Emotionen ausfüllt. Zuvor „Entrée de Polymnie“ aus „Les Boréades“: eine geradezu himmlisch fließende Musik, über die Marc Minkowski gesagt hat: „Die Zeit steht still, es ist die Erfüllung der Harmonie.“ Currentzis und MusicAeterna bestätigen mit ihrem Spiel diese Aussage voll und ganz.

Als Zugabe werden eine parodistisch angehauchte Bravour-Arie und die „Orage“ (Gewittermusik) aus „Platée“ geboten. Dass am Ende noch der Chor MusicAeterna in den Seitengängen aufmarschiert und für ein pompöses Finale sorgt, ist wohl der Tatsache zu danken, dass er beim Abschlusskonzert mit „The Indian Queen“ von Henry Purcell mitwirkt. (08.09.2016

Die Semi-Opera „The Indian Queen“ von Henry Purcell, ein Werk von nur ca. 50 Minuten Spieldauer, als Abschlusskonzert beim Musikfest Bremen? Nun, da hat man die Rechnung ohne Peter Sellars und Teodor Currentzis gemacht. Sie haben das fragmentarische Werk mit zusätzlicher Musik von Purcell und mit Texten aus dem Roman „The Lost Chronicles of Terra Firma“ der nicaraguanischen Autorin Rosario Aguilar angereichert und kommen so auf satte drei Stunden Spielzeit. Zudem hat Sellars die ursprüngliche Handlung (Kampf zwischen Azteken und Mayas nebst diversen Liebesverwirrungen) komplett geändert. Hier steht die Begegnung zwischen dem spanischen Eroberer Don Pedro und der Häuptlingstochter Teculihuatzin (der indianischen Königin) im Mittelpunkt, deren zunächst leidenschaftliche Liebe, aus der die Tochter Leonor hervorgeht, sich verliert und die auch nicht das Gemetzel der Spanier an den Indios stoppen kann. Don Pedro heiratet die Spanierin Doña Isabel, Teculihuatzin fällt in geistige Umnachtung. Die Oper endet mit dem pessimistischen Fazit des Chores, dass man niemandem auf Erden trauen könne.

Bei Currentzis gibt es keine einfache konzertante Aufführung. Mit effektvollen Beleuchtungswechseln (Lichtdesign Seth Reiser), mit archaischen Bewegungen der Solisten und einem grandiosen Chor, der sich von der Bühne bis in die Seitengänge bewegt, wird ein barockes Spektakel entfacht (Einstudierung Robert Castro), das mit der oft furios, oft in purer Schönheit erklingenden Musik bestens korrespondiert. Im zweiten Teil reiht sich allerdings ein Gebet an das andere, sodass die Oper in die Nähe eines Oratoriums gerückt wird. Und die von Maritxell Carrero sehr eindringlich gesprochenen Texte, die abwechselnd die Gedanken von Isabel, Teculihuatzin und Leonor ausdrücken, sind zu lang und mitunter fragwürdig.

Gleichwohl – musikalisch ist der Abend ein Fest. Johanna Winckel glänzt als Isabel mit ihrem berührenden Lamento „O Solitude“, Paula Murrihy verdeutlich mit rückhaltlosem Einsatz und ebenmäßigem Sopran die seelischen Qualen ihrer zur Hass-Liebe gewandelten Gefühle. Mit fast heldischem Tenor verleiht Jarrett Ott als Don Pedro seiner erschütternden Klage viel Tiefgang und rückt sie fast in die Nähe von Beethoven Florestan. Mit Ray Chenez und Christophe Dumaux sind für die Götter zwei hervorragende Countertenöre im Ensemble, die ihrem Duett „Oh, how happy are we“ eine umwerfende Brillianz sichern. Mit erzenem Bass hat Willard White als Mayapriester einen machtvollen Auftritt.

Teodor Currentzis am Pult seines Orchesters MusicAeterna setzt die Musik von Henry Purcell lebendig und eindringlich in Szene und erreicht eine Wiedergabe auf höchstem Niveau. Immer neue Glanzpunkte setzt der auch oft a capella und mit feinsten Klangschattierungen singende Chor. (10.09.2016)

Wolfgang Denker, 11.9.2016

Credits:

Foto Thomas Hampson von Kristin Hoebermann
Foto Deutsche Kammerphilharmonie von Deutsche Welle
Foto Kristjan Järvi von Franck Ferville
Foto Magdalena Kožená von Harald Hoffmann / DG
Foto Rolando Villazon von Harald Hoffmann / DG
Foto L’Arpeggiata (keine Angabe)
Foto Christina Pluhar (keine Angabe)
Foto Robin Johannsen von Uwe Arens
Foto Teodor Currentzis und MusicAeterna von 38-Production
Foto Teodor Currentzis von Robert Kittel / SONY