Seit Jahren ist es ein Markenzeichen des Bremer Musikfestes, neben den groß besetzten Abenden auch veritable Überraschungen anzubieten, bei denen es um Experimentelles oder um ungewöhnliche Künstler-Kombinationen mit ungewohntem Repertoire geht. Dafür steht die Reihe „Musikfest Surprise“. Diesmal konnte man im BLG-Forum unter dem Motto „Avital meets Sollima“ ein mitreißendes Konzert mit Avi Avital, Giovanni Sollima und Itamar Doari erleben.
Der in Israel als Sohn marokkanischer Einwanderer geborene Avi Avital wird weltweit als Botschafter der Mandoline gefeiert. Neben seiner Beschäftigung mit dem (überschaubaren) klassischen Repertoire für Mandoline pendelt er zwischen Klassik, Jazz und Weltmusik. Über hundert Kompositionen sind schon für ihn geschrieben worden.
Der aus Sizilien stammende Cellist und Komponist Giovanni Sollima ist ebenfalls ein Grenzgänger zwischen Barock und Jazz bis hin zur Avantgarde. In seinen eigenen, von der Musik seiner Heimat inspirierten Kompositionen strebt er die Verschmelzung von Klassik, Rock und Folklore an.
Keinesfalls nur das dritte Rad am Wagen ist der aus Israel stammende Perkussionist Itamar Doari. Im Alter von sechs Jahren begann er, verschiedene Perkussionsinstrumente zu spielen und ist heute ein Meister seines Fachs.
Was verbindet diese drei Künstlerpersönlichkeiten? Neben der Vorliebe für experimentelle Musik ist es die Liebe zum Mediterranen. Entsprechend ist auch ihr Programm aus klassischen, bearbeiteten und improvisierten Stücken zusammengestellt, Da erklingt Musik von türkischem, israelischem, marokkanischem, italienischem und spanischem Einschlag in bunter Folge – Musik vom Orient bis zum Okzident. Fast immer bestimmen der stringente Rhythmus und das irrwitzige Tempo den Duktus der Stücke. Eine ruhigere Stimmung bleibt eher die Ausnahme, wie etwa in dem langsamen, träumerischen Satz einer Sonate von Domenico Scarlatti, die von Avital und Sollima geradezu verspielt genommen wird. Auch mit einer italienischen Tarantella, die von Eliodoro Sollima, dem Vater von Giovanni Sollima, ursprünglich für Klavier komponiert wurde, kommt mediterranes Flair auf.
Das Zusammenspiel der Musiker scheint von blindem Vertrauen geprägt – so pointiert spielen sie sich die Bälle zu und finden zu einem ausgewogenen Miteinander. Aber auch solistisch glänzen die Musiker. Die Fingerfertigkeit von Avi Avital und die aufregenden Klänge, die er seiner Mandoline entlockt, sind atemberaubend. Giovanni Sollima scheint mit seinem Cello geradezu zu verwachsen, wenn er in seinem Solo sein Instrument „quält“ und ihm eine Spannweite entlockt, die vom Geräusch bis zur Kantilene reicht. Er kann das Cello dabei gleichermaßen wimmern und singen lassen. Und was Itamar Doari aus seinen Perkussionsinstrumenten mit vertrackten Rhythmen, mit ausgefeilter Dynamik und unglaublichen dynamischen Variationen herauszaubert, grenzt an Hexerei. Mehrere Zugaben belohnen die Begeisterung des Publikums. (5.9.)
Sie gehört zu den derzeit international erfolgreichsten deutschen Opernsängerinnen und er steht als Harfenist weltweit an allererster Stelle. Die Rede ist von Diana Damrau und Xavier de Maistre. Bereits 2012 sollten beide einen Liederabend beim Bremer Musikfest gestalten. Doch Damraus Schwangerschaft machte damals einen Strich durch die Rechnung, dafür trat dann Mojca Erdmann an ihre Stelle. Aber diesmal hat es geklappt.
„Auf Flügeln des Gesanges“ lautet das Motto des Abends, der auch mit diesem und weiteren Liedern wie dem „Pagenlied“, „Suleika“, „Der Mond“ und „Des Mädchens Klage“ von Felix Mendelssohn Bartholdy eröffnet wird. Von Anbeginn an nimmt Diana Damrau mit der Schönheit, der Wärme und der Klarheit ihrer Stimme für sich ein. Sie versteht es meisterhaft, jeder emotionalen Nuance nachzuspüren und jedes Lied zu einem geschlossenen Ganzen zu formen. Die strömende Melodie des mottogebenden Liedes versieht sie mit feiner Pianodifferenzierung. Ob Leidenschaft, Liebessehnsucht oder tiefe Melancholie (wie in „Des Mädchens Klage“) wird in Damraus Interpretation unmittelbar nachvollziehbar. Leider klatschte das Publikum etwas unsensibel nach jedem Lied dieser ersten Gruppe, was Damrau aber mit sehr charmanten und herzlichen Worten für den weiteren Abend stoppen konnte.
Mit einigen Liedern von Sergej Rachmaninow (aus „Zwölf Lieder op. 21“) wird mitunter die Stimmung „russischer Schwermut“ beschworen. Sie geben Damrau die Möglichkeit, weit gespannte Melodiebögen zu singen. Da gibt jubelnde Aufschwünge wie von Strauss („Die Antwort“), aber auch der introvertierte, nachdenkliche Momente („Dämmerung“). Ein Glanzstück ist „Der Brunnen von Bachtschyssaraj“ von Alexander Vladimir Vlasow, das mit seinen virtuosen Ansprüchen und hymnischen Aufschwüngen einer Opernarie nahe kommt.
Der zweite Teil führt mit Werken von Reynaldo Hahn und Francis Poulenc nach Frankreich. Hahns Lieder sind reizvolle Miniaturen und vom Charme des Eingängigen geprägt. Damrau singt sie mit Charme und bezaubernder Leichtigkeit. Das sie sich die schlanke Mädchenhaftigkeit ihrer Stimme bewahrt hat, wird hier besonders evident. Ihre Stimme gleitet mühelos durch alle Lagen und klingt auch in der Höhe rund und unverfärbt. Den Zyklus „La courte paille“ schrieb Poulenc für den sechsjährigen Sohn der Sängerin Denise Duval. Es sind sieben ganz kurze Lieder, die einen kecken Erzählton verlangen. Damrau trifft den Witz dieser Stücke punktgenau, der sich aber noch mehr erschlossen hätte, wenn sie in deutscher Sprache erklungen wären. „Les chemins de l’amour“ von Poulenc könnte mit seinen Walzeranklängen und seiner üppigen Melodik aus einer französischen Operette stammen und bietet Gelegenheit zu opulenter Stimmentfaltung.
Xavier de Maistre an der Harfe ist weit mehr als „nur“ ein Begleiter. Sicher – die Ausdrucksmöglichkeiten der Harfe reichen nicht immer an die eines Klaviers heran. Aber de Maistre begleitet mit feinsten Nuancen und lässt die Harfe geradezu wie ein Tasteninstrument „singen“. Die dynamische Bandbreite ist bemerkenswert. Mal lässt er sein Instrument süffig aufrauschen, mal klingt es filigran wie eine Spieluhr. Mit zwei Solostücken demonstriert er die reichen Ausrucksmöglichkeiten der Harfe: „Le rossignol“ von Franz Liszt und „Légende“ von Henriette Renié zeigen eine virtuose, ausdrucksvolle Bandbreite, mit der man märchenhafte Stimmungen erzeugen kann, mit perlenden Läufen, mit fahler oder glanzvoller Klangerzeugung. Dass ihm vor seinem zweiten Solostück eine Saite riss, brachte de Maistre nicht aus der Ruhe. Nach kaum fünf Minuten war das Malheur behoben.
Mit den drei Zugaben – „Nichts“ und das „Wiegenlied“ von Richard Strauss sowie „Villanelle“ („Die Schwalbe“) von Eva Dell’Acqua – setzen Damrau und de Maistre schließlich den glanzvollen Schlusspunkt. (7.9.)
Anna Netrebko ist der derzeitig unbestrittene Superstar der Opernszene. Die Ankündigung ihres ersten Auftritts in Bremen weckte große Erwartungen. Somit war die Operngala mit ihr und dem aserbaidschanischem Tenor Yusif Eyvazov auch innerhalb kürzester Zeit ausverkauft und war der „Renner“ des Musikfestes.
Kommt sie oder kommt sie nicht? Das war nach ihren Absagen in Salzburg und Bayreuth zumindest für kurze Zeit die bange Frage. Aber sie kam. Im eleganten, schulterfreien Kleid in Weiß (das sie nach der Pause gegen ein grünes, mit Pailletten bestücktes tauschte) nahm sie zusammen mit ihrem Ehemann und Partner Yusif Eyvazov den jubelnden Begrüßungsapplaus entgegen.
Das attraktiv zusammengestellte Programm beginnt ungewöhnlich. Keine Ouvertüre, sondern gleich das große Liebesduett „Già nella notte densa“ aus Verdis „Otello“ steht am Anfang. Und schon da zeigt Netrebko ihre außergewöhnlichen Qualitäten. Eine schöne, satte Stimme mit aufblühender Höhe, mit einem traumhaften Piano und mit einem großen Ausdrucksreichtum. Bemerkenswert sind auch die dunklen Farben im Brustregister, die sie dem Klang beimischen kann.
Bei dem Tenor Yusif Eyvazov ist in den letzten Jahren eine beachtliche stimmliche Entwicklung zu verzeichnen. Er steht längst nicht mehr im Schatten seiner Ehefrau, sondern hat mit Auftritten u. a. an der Met, der Scala, in Covent Garden oder Salzburg eine eigenständige Karriere zu verzeichnen. Sein viriler Tenor zeichnet sich durch Kraft und eine sichere Höhe aus. Seine Stimme wurde von der L.A. Times als „metallisch, stentorisch und ausgesprochen italienisch“ beschrieben. Ein schönes Piano ist bei ihm allerdings die Ausnahme. So hätte man sich etwa bei „E lucevan le stelle“ aus Puccinis „Tosca“ und bei „Quando le sere“ aus Verdis „Luisa Miller“ etwas mehr Schmelz und Differenzierung gewünscht. Aber wie er das unvermeidliche „Nessun dorma“ siegesgewiss schmettert, ist schon beachtlich. Auch die Arie „Vesti la giubba“ aus „I Pagliacci“ von Leoncavallo gelingt ihm berührend und verdeutlicht das „Lachen unter Tränen“ der Figur.
Zurück zur großen Gesangskunst von Anna Netrebko. „Pace, pace, mio dio“ aus Verdis „La forza del destino“ ist mit wunderschön gesungenen Bögen atemberaubend, ein inbrünstiges Flehen aus tiefster Herzensnot. Auch bei der Arie „Ebben? Ne andrò lontana“ aus Catalanis „La Wally“ ist Netrebkos ebenmäßiger Stimmklang zu bewundern. Im „Vogellied“ aus „I Pagliacci“ verdeutlicht sie die Sehnsucht Neddas nach einem freien Leben sehr überzeugend. Zu ihrem Gesang kommen ihre einmalige Ausstrahlung und Präsenz, die jeder Arie zusätzlichen Reiz sichern.
Der zweite Teil des Liebesduetts aus „Madama Butterfly“ vereint wieder beide Stimmen, die eine glutvolle Leidenschaft und berauschenden Wohlklang entfachen. Das gilt auch für „Vicino a te“ aus Giordanos „Andrea Chenier“, auch wenn Netreblo ihren Partner hier deutlich überstrahlt.
Etwas aus dem Rahmen des ansonsten rein italienischen Programms fällt das „Lied an den Mond“ aus Dvořáks „Rusalka“, aber wenn es so innig und perfekt wie von Anna Netrebko gesungen wird, nimmt man das gerne in Kauf. Ein Schmankerl der besonderen Art ist das Lied „Non ti scorda di me“ von Ernesto di Curtis, das hier als Duett serviert wird. Und wenn Netrebko und Eyvazov dazu noch ein paar Walzerschritte machen, versprüht das sympathischen Charme. Den entwickeln sie auch bei einer der Zugaben mit „O sole mio“. Netrebko steckt sich eine Blume in den Mund und wackelt kokett mit dem Popo während Eyvazov sich abmüht, bis er scheinbar frustriert abwinkt. Das kommt an.
Begleitet hat den Abend die Deutsche Kammerphilharmonie unter Jader Bignamini. Dabei erklingen mit den Intermezzi aus „Manon Lescaut“ und „Cavalleria rusticana“ sowie der Ouvertüre zu „La forza del destino“ die bei solchen Gelegenheiten üblichen Stücke. Interessanter war da schon ein Ausschnitt aus der Ballettmusik zu Verdis „Otello“, das den Komponisten von einer eher unbekannten Seite zeigt.
Ein Abend, der die Bezeichnung „Gala“ verdient, der zu einem der Höhepunkte des Musikfestes zählt und vom Publikum mit Begeisterung honoriert wurde. Aber er machte andere Abende wie Mahlers 10. Sinfonie mit den Bremer Philharmonikern oder die „Traviata“ mit Nicole Chevalier nicht vergessen. (10.9.)
Auf den letzten Metern bescherte das Finale des Musikfestes einen weiteren großartigen Abend. Mit dem britischen Aurora Orchestra gastierte ein mit ausschließlich jungen Musikern besetztes Ensemble. Es wurde von seinem Chefdirigenten Nicholas Collon 2004 gegründet und hat sich zunächst durch innovative Cross-over-Projekte einen Namen gemacht. Inzwischen hat es auch die großen Standardwerke in seinem Repertoire. Solche wurden mit dem Violinkonzert D-Dur op. 61 von Ludwig van Beethoven und der Symphonie fantastique op. 14a von Hector Berlioz auch beim Abschlusskonzert präsentiert. Als Solist konnte der international renommierte griechische Geiger Leonidas Kavakos gewonnen werden, Den Beethoven-Programmpunkt wertete Intendant Thomas Albert als Vorboten für das Beethoven-Jahr 2020.
Der beherzte Zugriff von Collon und dem Aurora Orchestra auf Beethovens Violinkonzert nimmt schon gleich im Kopfsatz für sich ein. Da werden die Themen frisch entwickelt und ein hervorragendes Zusammenspiel mit dem Solisten gepflegt. Immer wenn die Geige schweigt, trumpft das Orchester rauschartig auf. Die Balance ist trotzdem gewahrt, denn Kavakos verfügt über einen kraftvollen, sonoren Geigenton. Der ist im Klang manchmal vielleicht etwas angeraut, dafür gleitet er aber nie ins Sentimentale ab. Das zeigt sich auch im Larghetto, das mit sehr breitem Tempo geradezu zelebriert wird, und eine weltentrückte Stimmung beschwört. Die Kadenz im 1. Satz wurde von Kavakos bearbeitet und mit den eingestreuten Paukenschlägen aus Beethovens Fassung des Violinkonzerts für Klavier übernommen.
Aber sie ist denn doch eine Spur zu lang und verzerrt die Proportionen etwas. Gleichwohl zeigt sich Kavakos hier wie auch im fröhlich-tänzerischen Rondo als begnadeter Virtuose. Auch mit seiner Zugabe, dem sehr verinnerlicht musisierten Andante aus der Violinsonate Nr. 2 BWV 1003, zeigt Kavakos seinen Ausnahmerang.
Bei der Symphonie fantastique ist schon der optische Eindruck überraschend anders. Die Bühne ist bis auf die Pauken völlig leer. Das Orchester musiziert jetzt, so wie ihre Kollegen aus Perm, im Stehen und auswendig. Das Werk trägt den Untertitel „Episode aus dem Leben eines Künstlers“ und folgt einem genau festgelegten Programm. Berlioz verarbeitete darin seine (zunächst unerwiderte) Liebe zu der Schauspielerin Harriet Smithson. Berlioz war der erste, der mit einer „idée fixe“ die Technik eines Leitmotivs, das sich durch alle fünf Sätze zieht, anwandte. Der 1. Satz („Träume, Leidenschaften“) spiegelt wie im Fieberwahn die widersprüchlichen Gefühle des Künstlers wider. Das können Collon und sein Orchester mit sonorem Klang und aufgewühlten Eruptionen punktgenau umsetzen. Der 2. Satz („Ein Ball“) zeichnet mit dem zentralen Einsatz der Harfen und ihren Walzerklängen ein (trügerisches) Bild der Hoffnung bei der erneuten Begegnung des Künstlers mit seiner Angebeteten. Beim 3. Satz („Szene auf dem Lande“) zeigt sich das Orchester mit fein abgestimmten Klängen voller Farbigkeit und dem Einsatz von Soloinstrumenten (Englischhorn und Oboe) von seiner besten Seite. Der Satz erinnert mit seinen sanften Hirtenmelodien zunächst an Beethovens „Pastorale“, bevor die Stimmung wieder in traumatische Eifersucht kippt. Ein Glanzstück vollbringen Collon und das Aurora Orchestra im 4. Satz („Der Gang zum Richtplatz“). Der Künstler glaubt im Drogenrausch, seine Geliebte ermordet zu haben und wähnt sich auf dem Weg zur Hinrichtung. Wie das Orchester diese Szene (bis hin zum Fallbeil) in entfesselten Klang taucht, ist sensationell. Geigen und Fagotte reihen sich dabei frontal zum Publikum auf. So muss die Apokalypse sein! Im Finale („Hexensabbat“) findet das Orchester zu einer furiosen, geradezu entfesselten Spielweise. Was hier an klanglicher Monumentalität realisiert wird, ist kaum zu übertreffen. Man glaubt, die Hexen und Dämonen plastisch vor sich zu sehen. Bevor die Musiker sich im Publikum verteilten und mit der Wiederholung des 4. Satzes für ein besonders reizvolles Erlebnis sorgten, wandte sich Collon an die begeisterten Zuhörer: „Wir sind ein englisches Orchester, wir spielen ein französisches Werk und wir sind in Deutschland – und wir machen keinen Brexit.“ Toll!
Wolfgang Denker, 15.9.2019
Foto Avi Avital von Guy Hecht
Foto Giovanni Sollima von Francesco Ferla/Almendra Music
Foto Diana Damrau von Jiyang Chen
Foto Xavier de Maistre von Jean Baptiste Millot
Foto Anna Netrebko / Yusif Eyvazov von Vladimir Shirokov
Foto Deutsche Kammerphilharmonie von Julia Baier
Foto Aurora-Orchestra von Nick Rutter
Foto Leonidas Kavakos von Marco Borggreve