Premiere am 6. 10. 2017
Opernkritik lebt vom Vergleich – diesmal zum Nachteil von Maribor
Laut Werkstatistik , die der Deutsche Bühnenverein in diesem Sommer publizierte, ist Puccinis La Bohème in Deutschland mit 20 Inszenierungen in 164 Aufführungen in der Saison 2015/16 die am vierthäufigsten aufgeführte Oper – also kein Wunder, dass sie derzeit sowohl in Graz (siehe den letzten Opernfreund-Bericht) als nun auch fast zeitgleich im nur 70 km entfernten Maribor auf den Spielplan gesetzt wird. Graz und Maribor müssen daher damit rechnen, dass Vergleiche angestellt werden.
Es sind zwei ganz unterschiedliche Produktionen – sowohl was den Regiezugang anlangt als auch den Charakter der Rollenbesetzungen.
In Graz war es eine Wiederaufnahme einer durchaus konventionellen Inszenierung aus dem Jahre 2008. In Marburg übernimmt man jene Inszenierung, die der französische Regisseur und Bühnenbildner Arnaud Bernard im Jahre 2011 für St. Petersburg entwickelt hatte und die inzwischen mehrfach von anderen Theatern übernommen wurde, unter anderem von südamerikanischen Bühnen, aber auch vom nahegelegenen Zagreb. Von dort gibt es ein informatives Video (vier Minuten) aus dem Jahre 2012, das einen guten Eindruck vermittelt.
Bei Bernard gibt es keine herkömmliche Bohème-Szenerie – es gibt keine Wände, keine Räume, sondern nur einen neutralen Rundhorizont, davor wenige Requisiten, die die jeweilige Situation andeuten. Alles spielt im Freien – da gibt es im ersten Akt keine Dachmansarde, sondern man agiert auf dem Dach, im 2. Akt gibt es kein Café Momus, sondern nur hektisch-tolle Volksmengen, viele Stühle, ein paar Tische und ein Pianino.
Der 3. Akt spielt auf einer Müllhalde mit alten Waschmaschinen und Badewannen vor einem Wohnwagen und im 4. Akt gibt es die wenigen Möbelstücke des 1. Bildes samt Matratzen in einem Meer roter Rosen. Alles ist sehr luftig in Szene gesetzt und durchaus effektvoll ausgeleuchtet. Die Akteure tragen die Kostüme eines Paris um 1930 und spielen ihre Szenen, wie man es von herkömmlichen Inszenierungen gewohnt ist. In einem Beitrag einer slowenischen Zeitung vor der Premiere konnte man lesen, der Regisseur suche „eine zerbrechliche Balance und Symbiose zwischen dem Original und einer bewussten Anpassung an den Geist der Neuzeit“. Ich meine, das ist dem Regisseur in optischer Hinsicht grundsätzlich gelungen. Allerdings gibt es eine deutliche Diskrepanz: es wird bemüht und durchaus altmodisch agiert, während zu dem optischen Konzept eher ein stilisiert-irreales Spiel gepasst hätte. Ich weiß nicht, ob der französische Regisseur tatsächlich in Marburg war oder die Einstudierung nur durch ein Assistententeam erfolgte – bei der Premiere hat sich der Regisseur am Ende jedenfalls nicht dem Publikum gezeigt.
Mein Vergleich:
Beide Regie-Konzepte in Graz und in Marburg haben ihre Berechtigung, die Umsetzung war allerdings in Graz wesentlich schlüssiger und geschlossener.
Und auch bei der Besetzung der Rollen ist man in Marburg einen anderen Weg gegangen als bei der zeitgleichen Grazer Produktion:
In Graz hatte man ein blutjunges Ensemble gewählt, in Marburg setzte man auf ein erfahrenes Sängerteam. Der Venezianer Renzo Zulian ist seit mehr als 25 Jahren auf großen und mittleren Bühnen präsent. In Maribor ist er Stammgast – man kennt ihn hier als Radames, als Dick Johnson, als Calaf, als Manrico. Die aus Marburg stammende und in Graz ausgebildete Sopranistin Sabina Cvilak – laut ihrer Agentur the most successful Slovenian ‘lirico spinto’ soprano – startete ihre internationale Karriere als Liu im Jahre 2003 in Hamburg und schaffte im Jahr 2007 in Los Angeles mit der Mimi ihren Durchbruch. Inzwischen profiliert sich Sabina Cvilak in Wiesbaden mit Rollen wie Tannhäuser-Elisabeth, Sieglinde, Arabella, Katja Kabanova (ein besonderer Erfolg). Überraschend ist, dass sie diesmal zum allerersten Male die Mimi in ihrer Heimat verkörpert.
Zulian und Cvilak sind wahrlich sehr erfahrene Interpreten, singen allerdings derzeit ein deutlich anderes, gewichtigeres Fach als Rodolfo und Mimi. Und so fehlte also doch Wesentliches.
Trotz einer kleinen, vielleicht durch Nervosität bedingten Panne am Ende des 1.Bildes ist Sabina Cvilak eine gute, eine damenhaft-schöne Mimi. Ihre dunkeltimbrierte Stimme versteht es noch immer, auch zarte Phrasen und schöne Piani zu produzieren – aber insgesamt: sie ist stimmlich doch deutlich über diese Rolle hinausgewachsen. Renzo Zulian hat es da deutlich schwerer. Ja – seine Spitzentöne sind nach wie vor sicher und metallisch glänzend, aber seine Stimme ist kaum eines lyrischen Mezzofortes oder gar Pianos mächtig. Nur ein Beispiel: am Ende des 3.Akts kann er die Piano-Phrase Ci lascieremo alla stagion dei fior! nur mit kaum gestützter, fast markierender, ja falsettierender Stimme singen. Den jugendlichen Poeten kann er leider weder stimmlich noch darstellerisch glaubhaft machen.
Auch die Bulgarin Petya Ivanova als Musetta hat große und internationale Bühnenerfahrung. Natürlich ist sie eine sichere Sängerin und Darstellerin und bewältigt ihre Partie mit Anstand. Aber auch sie hat sich in eine neues Fach hinein entwickelt – nach der Donna Anna war sie im Vorjahr eine recht gute Katerina in Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk. Und da passt eben die Musetta nicht mehr so recht dazu. Der 45-jährige slowenische Bariton Jaki Jurgec ist seit langem Ensemblemitglied des Marburger Hauses. Bei der letzten Neuinszenierung in Marburg im Jahr 2010 war Jaki Jurgec der Schaunard. Er wäre besser bei dieser Partie geblieben, die belkantesken Legato-Phrasen des Marcello liegen ihm weniger.
Leider kann man auch über die anderen beiden Bohemiens nicht allzu Positives berichten. Der Schaunard ist der junge Darko Vidic – ihm fehlen ganz einfach das nötige stimmliche Gewicht und die Prägnanz für diese Charakterrolle. Der Bassbariton Alfonz Kodrič gehört seit bald 20 Jahren zum Marburger Ensemble und hat hier viele große Rollen, darunter auch den Colline gesungen. Am Premierenabend hörte man eine raue, eher ungehobelte Stimme. Ein Beispiel: Das hohe Es in der Mantelarie ist ausdrücklich mit Piano und decrescendo notiert – bei Kodrič fällt es mit einem groben Forte ganz aus der Linie heraus. Die Ensembles der Bohemiens sind musikalisch subtile Gebilde – da braucht es schlanke, italienische Belcantokultur und präzise Artikulation. Das vermisste man leider an diesem Abend. Zu den gesanglichen Positiva des Abends zählte der Senior Valentin Pivovarov als Hausherr Benoît. Chor und Kinderchor bewältigten ihren Part sicher.
Der Dirigent des Abends war Francesco Rosa , den ich zuletzt vor zwei Jahren in Marburg in der Fanciulla del West erlebt hatte – mit diesem Werk hatte er im Jänner 2017 – einspringend für Marco Armiliato – auch sein durchaus gelobtes Debut an der Wiener Staatsoper gegeben. Mit großen Gesten hält Francesco Rosa Orchester und Bühnen sicher zusammen. Er schwelgt in breiten Kantilenen, was den schwereren Stimmen von Rodolfo und Mimi durchaus entgegenkommt. Das Sinfonieorchester Maribor spielt sicher und solide.
Trotz aller Einwände: Puccinis Werk ist so stark, dass man gerade im Schlussbild immer wieder berührt ist. Da hat auch Sabina Cvilak ihre Todesszene sehr überzeugend gestaltet.
Das Publikum reagierte während der Aufführung recht zögerlich mit Zwischenapplaus. In der (unüblichen) zweiten Pause vor dem Schlussbild hatten in meinem Umfeld im Parterre auffallend viele das Haus verlassen – aber am Ende gab es dann doch freundlichen, wenn auch kurzen Beifall, in dessen Mittelpunkt Sabina Cvilak stand.
Hermann Becke, 7. 10. 2017
Szenenfotos: SNG Maribor, © Tiberiu Marta
Kurzvideo aus Marburg – Schluss des 1.Aktes (da steigen Mimi und Rodolfo vom Dach….)