Lieber Opernfreund-Freund, die Zeiten, in denen sich Studentinnen und Studenten in kleinen Werken wie Mozarts Bastien und Bastienne, Haydns Apotheker, Purcells Dido & Aeneas oder der Heure espagnol von Ravel dem großen Publikum präsentierten, scheint vorbei. Die Opernschule der Stuttgarter HMDK zeigt derzeit am Wilhelmatheater ein ausgewachsenes und schwieriges Werk: Poulencs Nonnenepos Dialogues des Carmélites. Die 1957 uraufgeführte Oper hat einen realen Hintergrund: 1794 wurden 16 Karmeliterinnen von Compiegne zum Tode verurteilt und geköpft, weil sie sich geweigert hatten, ihr Ordensgelübde zu brechen. Originalberichten zufolge betraten die Frauen singend den Richtplatz.
Als ausgesprochener Fan dieser Oper habe ich die Produktion für einen Ausflug ins sommerliche Stuttgart genutzt und mir die Produktion gestern für Sie angesehen.
Das Wilhelmatheater ist das älteste Theater Stuttgarts, wurde 1840 eröffnet und ist durch klassizistische Bauweise und pompejanischen Stil geprägt. Seit 1987 dient es der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst Stuttgart als Lehr- und Lerntheater und fungiert als Spielstätte für die Hochschulproduktionen aus den Bereichen Oper, Schauspiel und Figurentheater. Ich war zugegebenermaßen skeptisch, als ich gelesen habe, dass sich junge Studierende an Poulencs Gespräche der Karmelitinnen wagen. Können junge Menschen mit wenig Bühnenerfahrung diesen Kosmos der Gefühle der einzelnen Protagonistinnen überzeugend darstellen, wie beispielsweise die Ängste und Nöte einer alten Ordensfrau, die am Ende ihres Lebens mit Gott hadert? Können sie die natürliche Autorität der neuen Priorin zeigen, die Zweifel von Mère Marie, die das Treuegelübte der Schwestern initiiert hat und als einzige nicht zum Schafott geht? Die Inszenierung von Franziska Severin beschränkt sich in weiten Teilen auf eine Bebilderung des Geschehens, der kreidegeschriebene Wahlspruch der französischen Revolution sowie die zeitgenössischen Kostüme von Michael S. Kraus verorten die Handlung in der Originalzeit. Die Bühne, für die ebenfalls Kraus verantwortlich zeichnet, zeigt im ersten Tableau noch die Bibliothek des Vaters, wird danach zum Einheitsbühnenraum aus einem Halbrund von gekälkten Drehtüren, durch die mit Beginn der Revolution rote speerartige Stangen wie eine Bedrohung von außen die sonst sicheren Klostermauern durchstoßen. In der letzten Szene allerdings gelingen Franziska Severin doch noch aktuelle Deutungsansätze: aus den französischen Kleidern des Jahres 1794, in denen die Nonnen mittlerweile stecken, schälen sich moderne Frauen unserer Zeit und verdeutlichen so, dass Hinrichtungen aus religiösen Gründen – gerade von Frauen – noch immer Thema in unserer Welt sind.
Von der musikalischen Qualität des gestrigen Abends bin ich mehr als angenehm überrascht: Der Madame Croissy von Melis Vlahović fehlt es an nichts, voller Verve verkörpert die junge Sängerin die Ängste der alten Priorin. Pavlina Chamante bringt für Madame Lidoine außerordentliches Volumen mit und verleiht der neuen Priorin damit eine Aura von Autorität. Die Mère Marie von Lana Maletić ist zum Niederknien: facettenreich, energisch, fordernd – wunderbar! Seoho Park stattet die Novizin Constance mit klarem, vor Leichtigkeit nur so strotzenden Sopran aus. Der Farbenreichtum, mit dem Lena Reineke die Blanche anlegt, ist schier unermesslich. Dass die junge Sängerin gestern in dieser Rolle debütiert, mag man bei der Souveränität ihrer Darstellung kaum glauben.
Bei den Herren bleiben vor allem der Chevalier von Massimo Frigato mit feiner Höhe und Frazan Adil Kotwal als dessen Vater mit Ehrfurcht einflößendem Bariton im Ohr. Letzteren zeigt der aus Indien stammende Sänger noch einmal eindrucksvoll bei der Verlesung des Todesurteils als Geôlier. Aber auch das übrige Dutzend Sänger, das ich ob der bloßen Flut hier nicht erwähnen kann, ist durch die Bank adäquat besetzt und steht den namentlich genannten in nichts nach. Einziger „Lehrkörper“ auf der Bühne gestern ist Angelo Raciti, der mir mit seiner eindrucksvollen Version des Aumônier besonders gefällt. Im Graben zeigt Bernhard Epstein zusammen mit dem Stuttgarter Kammerorchester und Studierenden der Instrumentalklassen der HMDK Poulencs Partitur in all ihren Facetten, lässt es in den Zwischenspielen fast sphärisch funkeln, um kurz darauf die Bedrohung der Frauen auch akustisch greifbar zu machen.
So vermisse ich absolut nichts am gestrigen Abend und kann die eingangs gestellte Frage ruhigen Gewissens mit „ja“ beantworten: die jungen Sängerinnen und Sänger stehen erfahrenen Bühnenkollegen in nichts nach – also kann ich Sie, lieber Opernfreund-Freund, ruhigen Gewissens in diese Produktion und das wunderbare Wilhelmatheater schicken.
Ihr Jochen Rüth, 12. Juni 2023
Dialogues des Carmélites
Oper von Francis PoulencPremiere: 8. Juni 2023
Besuchte Vorstellung: 10. Juni 2023
Inszenierung: Franziska Severin
Musikalische Leitung: Bernhard Epstei
Stuttgarter Kammerorchester und Studierende der Instrumentalklassen der HMDK
Weitere Vorstellungen: 12., 14., 16., 26., 28. und 30. Juni