Mannheim: „Boris Godunow“, Modest Mussorgsky

© Christian Kleiner

Die erste Opern-Premiere des Nationaltheaters Mannheim im neuen Jahr ging an der Sanierungs-Ausweichstätte Pfalzbau-Theater Ludwigshafen mit „Boris Godunow“ von Modest Mussorgsky über die Bühne. Die letzte grandiose Inszenierung dieses opulenten Werkes hatte vor 20 Jahren am NTM Premiere.

Nun fand sich heute wiederum ein Team des modernen Regietheaters und geistiger Wahl-Verwandtschaften, griff tief in die Mottenkiste der Absurditäten, schnorrte ungeniert von Ideen vorheriger Regie-Banausen, wehe wenn sie losgelassen zimmerten munter drauflos, ließen quasi an Kuriosem nichts aus, schreckten selbst vor Kannibalismus-Szenen nicht zurück. Entschuldigung, geht´s noch?  Vergebliche Müh´ ohne Zweck, dafür werden also Protagonisten wochenlang in aufreibenden Proben malätriert? Ein  Bühnenrahmen (Paul Zoller) mit Öffnung und Lichtquelle im Hintergrund, variabel dekoriert bildete die einfache trostlose Bühnenkonstruktion, im VI.  Bild dem Polenakt wurde es hingegen dekadent, schrill und bunt. Der Chor und größtenteils Solisten erschienen stereotyp, anonym einfallslos in Kleidchen, Hemd und Hose und weizenblonden Perücken (Sabine Blickenstorfer).

Mit guten Vorsätzen wollte der Regisseur Lorenzo Fioroni die hochbrisant-politische Oper in die Gegenwart transferieren, jedoch spröde eintönig erschien die Personenführung, von wenigen Ausnahmen abgesehen fehlte es dieser Produktion an jeglicher individuellen Prädikation. Der Chor wurde zwar gut bewegt, erging sich jedoch wiederholt in hilflosem Händerecken gen Himmel. Wenig eindrucksvoll, mit überflüssigen Videoeinspielungen versehen verpuffte so manche Szene bedeutungslos im Nirgendwo, lediglich die Momente  mit Boris-Pimen-Dimitri, die Boris-Todesszene gewannen durch beklemmend-dramatischen Gehalt, blieben nachträglich im Gedächtnis haften. Keineswegs konnten  skurrile  Pappmaché-Köpfe sowie ein halbnackter Boris über die (un)gepflegte Langeweile hinwegtäuschen. In Erinnerung meiner bisher erlebten, teils genialen  Inszenierungen, gerät diese Produktion schnell in Vergessenheit.

© Christian Kleiner

Musiziert und gesungen wurde hingegen auf hohem Niveau. Als Grundlage der heutigen Wiedergabe diente Mussorgskys Ur-Fassung von 1869 sowie der Retusche von 1872/73. Roberto Rizzi Brignoli gelang es vorzüglich das Collage-Prinzip des Werkes bezwingend  zum dramatischen Ganzen zu einen. Beeindruckend mit welcher Souveränität das NTM-Orchester die diversen musikalischen Diktionen von der solistischen Begleitfunktion bis zur vortrefflichen  Gesamtpracht des instrumentalen Orchesterapparates vollendet bewältigte. Geradezu liebevoll ziselierte der GMD die Leitmotive, verlor sich zuweilen in ungewohnten Lyrismen, bedachte die charakteristischen Kontraste der Partitur mit Vehemenz ohne sich jedoch in orchestralen Eruptionen zu verlieren. Dank der großartigen Disposition, präzisen Tongebungen aller Instrumentalgruppen konnte man sich der Sogwirkung dieser famosen Interpretation nicht entziehen.

Schier makellos erwiesen sich ebenfalls das hervorragende Ensemble und ganz besonders Chor und Extrachor des NTM (Alistair Lilley) welcher sich agil, transparent, in dynamischer Klangpracht entfaltete.

Für Mussorgsky, der tief in die menschliche Seele (aber auch verhängnisvoll ins Wodka-Glas) blickte, bestand die fragile Tragödie Boris Godunow vorrangig in dem sich auftürmenden Schuldgefühlen welche ihn schließlich in den Wahnsinn trieben, tiefe Narben auf seiner Seele eingruben. Nun kam die Regie auf die „glorreiche“ Idee, diese sichtbar nach außen zu kehren und dem Sänger auf den fülligen, halbnackten Leib zu malen. Es ist eine Schande, wie respektlos man Künstlern heute begegnet. Sollte man diese hirnlosen Regie-Banausen nicht in gleichem Outfit zum Final-Applaus auf die Bühne jagen?

Es war faszinierend zu erleben in welcher darstellerischen Intensität, auch dank seiner persönlichen Aura Patrick Zielke diese anspruchsvolle Partie in beklemmender Weise interpretierte. Ebenso dank der immensen vokalen Qualitäten seines in allen Lagen prächtig fokussierten Bassmaterials voll satter Tiefe, feinsten Nuancierungen in Pianissimo-Bereichen sowie metallischen Höhenaufschwüngen gelang es Zielke diese zwiespältige Charakterisierung des Boris auch sanglich berührend zu vermitteln. Bravo! Man bedauerte die relativ wenigen Szenen mit diesem grandiosen Künstler und hätte sich gerne „mehr“ gewünscht.

Zum Kostümfest am polnischen Hofe hatte Marina geladen, inmitten dieser zweifelhaften Dekadenz gelang Julia Faylenbogen ein hinreißendes Portrait der zunächst Desinteressierten, doch im weiteren Verlauf zur berechnenden Verführerin. Vom ersten bis letzten Ton nahm ihr herrliches Mezzotimbre für sich ein, überwältigend führte die persönlichkeitsstarke Sängerin ihr wohltönendes Organ in aufblühende Höhen und schenkte den Tiefenbereichen erotisch-lockende Töne und zog Dimitri mit weiblicher List in ihren Bannkreis.

Zu imposant metallischem Höhenpotenzial, kerniger heldentenoraler Attitüde, herrlich strömendem Timbre gab Jonathan Stoughton diesem Parvenü ausdrucksstark eine  gefährlich-verhaltene Präsenz. Farbenreich detailliert in vokaler Intensität gestaltete der Sänger die Dialoge mit Pimen und Marina stets im Interesse seiner ehrgeizigen Machtziele.

Im Priestergewand als Raubvogel mit schwarzen Flügeln kostümiert verstand es Evez Abdulla mit markantem Bariton den zwielichtigen intriganten Rangoni bestens zu portraitieren. Mit kraftvoll, dunkel-strömendem Bass formierte Sung Ha nachdrücklich Pimen den Gegenspieler des Zaren. Weshalb auch er halbnackt und narbendekoriert auftreten musste, bleibt wohl geheim?

© Christian Kleiner

Klangschönes Mezzotimbre ließ Maria Polanska als quirliger Zahren-Sohn Fjodor vernehmen. Liebliche Soprantöne setzte Yaara Attias als seine Schwester Xenia dagegen. Mit dunklen Vokalfarben umschwirrte Marie-Belle Sandis als betuliche Amme die beiden zaristischen Sprößlinge und verpasste dem Herrscher eine Waden-Massage. Merkwürdig blass blieb dagegen Rita Kapfhammer als Schankwirtin.

Angenehme baritonale Züge verlieh Ilya Lapich dem Andrei Schtschelkalow. Imposante Bassnuancen schenkte Bartosz Urbanowicz dem Waarlam, als tenoraler Gegenpol glänzte Raphael Wittmer in der Rolle des zweiten Mönchs-Vagabunden Missail. Aufhorchen ließ Marcel Brunner zur Doppelfunktion Polizeioffizier/Tschernikowski.

Hellstrahlend charakterisierte Rafael Helbig-Kostka die Klagen des Gottesnarren. Dem gefährlich-intriganten Schuiski wurde Christopher Diffey mit wenig tenoraler Substanz nicht gerecht. Rollendeckend in kleineren Partien ergänzte Jordan Harding das Ensemble.

Mit Bravorufen bedachte das Premierenpublikum die Solisten, Dirigent und Orchester, doch wollte sich keine überschäumende Begeisterung einstellen. Ohne Pro und Contra nahm man das Produktionsteam gewahr.

Gerhard Hoffman, 3. Februar 2023

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)


Boris Godunow
Modest Mussorgsky
Ur-Fassung von 1869 sowie der Retusche von 1872/73

Mannheim
Nationaltheater im Pfalzbau

Premiere 28. Januar 2024

Inszenierung: Lorenzo Fioroni
Musikalische Leitung: Roberto Rizzi Brignoli