Premierenbericht 16.9.17
Der letzte Wunsch lautet „Verstand“ – Wilhelm Hauffs Märchen ist auch 2017 noch brandaktuell
"Das Kalte Herz" ist kein Märchen für Kinder, oder doch? Zumindest kann man die wunderbare Vorlage von Rebekka Kricheldorf (2002 Autorenpreis der deutschsprachigen Theaterverlage und Publikumspreis beim Heidelberger Stückemarkt, 2003 Kleist-Förderpreis, 2010 Kasseler Literaturpreis) auch im Genre "Jugendtheater" einordnen. Sie macht aus einem Kunstmärchen von 1827 auf höchst spannende und unterhaltsame Weise ein Theaterstück von heute, welches so berührt, weil alles immer noch gesellschaftlich aktuell ist. Brandaktuell!
Geld regiert die Welt. Die Gewinn-Maximierung ist Lebensmotto. Dabei geht meist jede Menschlichkeit verloren. Als wenn Hauff die Zeitlosigkeit seiner wunderbare Parabel über die Wertigkeit des Lebens geahnt hätte, fängt alles auch nicht mit "es war einmal" an, sondern startet im Original wie ein Reisebericht: " Wer durch Schwaben reist, der sollte nie vergessen, auch ein wenig in den Schwarzwald hineinzuschauen; nicht der Bäume wegen, sondern wegen der Leute…"
Kricheldorf (Bild rechts) hat die Geschichte destilliert, sinnvoll gekürzt und auch sprachlich auf zeitgenössisches Niveau gehievt. Die Regisseurin
Bettina Jahnke garniert das Ganze mit Musik; der gefühlvollen Einbau bekannter Stücke bringt das Märchen auf Augenhöhe junger heutiger Menschen. So gelingt eine Dramaturgie, die zwei so hochspannende, wie höchst unterhaltsame Stunden lebendigen Theaters garantiert.
Großen Anteil daran hat ein Team junger Darsteller mit überragenden Talenten: feinsinnige, sprachliche Diktion, akrobatische Bewegungsfertigkeiten, tänzerisches Können und auch gesangliche Qualität. Fast über das ganze Stück, wenn gerade nichts Musikalisches läuft, kann man die sprichwörtlich Stecknadel fallen hören. So packend, so fesselnd und mitreißend kann Sprache heutzutage noch rüber kommen. Was für ein tolles Beispiel guter Sprechtheater-Dramaturgie.
Einen wesentlichen Teil dieses Gesamtkunstwerkes macht allerdings, nicht nur die Sprache aus, sondern die Vielfältigkeit in der Musik, besser der musikalischen Begleitung und Untermalung. Man vermisst keine Band, denn was die beiden Multigenies Christoph Kammer und Henning Nierstenhöfer (Bild oben) hier leisten, ist so begnadet wie vielfältig ausziseliert. Ihre Bearbeitung diverser Musikinstrumente, denen sie liebevoll köstliche Töne, Klänge, Rhythmen und Harmonien entlocken, ist phänomenal ohne je aufdringlich zu wirken. Auch sind sie so leichtfüßig ins Bühnenbild und die Handlung integriert, daß sie manchmal fast wie Requisiten wirken. Sie machen gelegentlich sogar Stille hörbar…
Wunderbare Kostüme von Juan León, der auch für die Bühne verantwortlich zeichnet. Er schafft es mit den wenigen Requisiten, eine quasi Weltreise des Protagonisten sinnvoll zu stilisieren. Nicht zu vergessen die Choreografie vom Multitalent Richard Lingscheidt; die Tanzeinlagen haben Let´s-Dance-Niveau 😉 !
Doch was wäre das alles ohne die fabelhaften Darsteller, allen voran Josia Krug, in der Rolle des Köhlers Peter Munk, der einen Ibsenschen Peer Gynt darstellt. Zusammen mit Richard Lingscheidt (Tanzbodenkönig) haben beider Tanz-Einlagen teilweise John-Tavolta-Format. Hier springt das alte Märchen ins Diskozeitalter mal eben über. Die Jugend wird es freuen.
Den Kampf des ewig Guten gegen das Böse repräsentieren Johanna Freyja Iacono-Sembritzki (Glasmännlein) und Pablo Guaneme Pinilla (Holländer Michael) so trefflich wie diabolisch, wobei erstere wie eine Raubkatze fast schwerelos über Stämme balanciert oder sich grazil wie eine Schlange am Baum hochwindet. Märchenhaft grandios…
Ausdrucksstark und nachhaltig in Erinnerung bleiben Hergard Engert (Mutter) und Anna Lisa Grebe (Schlurkerin/Lisbeth), große bemerkenswerte Darstellerinnen in kleinen Rollen. Und last but not least ergänzen Richard Lingscheidt (Doppelrolle auch als Amtmann) und Rainer Scharenberg (Ezechiel/Lisbeths Vater) ein superbes Schauspielerteam. Ich verwende ungern den Begriff "Dreamteam", aber hier bringt sich durch die Bank jeder Künstler einfach fabulös ins Geschehen ein. Und daß es keine Sekunde langweilig wird, liegt nicht nur am brillanten Regiekonzept, sondern auch am Einsatz jedes einzelnen Mitglied dieser Truppe.
Was für ein toller, beeindruckender Theaterabend, und das durchaus mit Tiefgang. Das Stück bleibt auch am nächsten Tag noch nachhaltig in der Erinnerung. Eigentlich kann ein Saisonauftakt besser kaum ausfallen.
Peter Bilsing 17.9.2017
Bilder (c) RLT / Kiepenheuer Bühnenvertrieb
Credits Musik (die Originale)