Neuss: „Die kurze Geschichte der Menschheit“

Braucht der Mensch eine neue Erde – oder braucht die Erde einen neuen Menschen?

Die Collage aus musikalischen Bildern, verblüffenden Thesen, Texten und Songs über hunderttausend Jahre Menschheitsgeschichte an einem einzigen kurzen Abend – so viel gleich vorweg – ist gelungen und wurde vom Premierenpublikum geradezu furios mit etlichen schon fast Bayreuth-würdigen Vorhängen eine gute Viertelstunde mehr als bejubelt. So etwas erlebt man als urtümlicher Opernkritiker im Sprechtheater absolut selten.

Grandios hat Regisseur Sebastian Zarzutzki für das Rheinische Landestheater Neuss das internationale Erfolgsstück von Yuval Noah Havari bearbeitet und die 500 Seiten in kurzweilig fulminante Bühnenhandlung übertragen. Dass das so brillant gelungen ist, liegt an einem Quartett junger dynamischer, textverständlich sprechender und auch noch meist passabel singender junger Schauspieler, zu denen man der Theaterleitung des RLT nur gratulieren kann.

Bühnen- und Kostümbildnerin Jule Dohrn van Rossum hat für die Truppe individuell originelle wie skurrile Couture geschaffen, wobei die Maske mit ihren Glittereffekten das Ganze noch perfekt ergänzt. Der futuristisch coole, teilweise zirzensische Style könnte eigentlich direkt vom Cover des Beatles Albums Sgt. Pepper inspiriert worden sein – erinnert aber in der Exzentrik auch an David-Bowie-Auftritte – intergalaktisch märchenhaft schön. Hier sagt ein Bild mehr als Worte:

Die Geschichte ist so aktuell wie spannend erzählt, denn gemessen an der Zeitspanne, in der unser Planet Erde existiert, dauert das rätselhafte Auftreten der menschlichen Spezies nicht länger als einen Wimpernschlag. Bei angenommenem 24 Stunden, wobei es kurz vor 12 ist, waren die Menschen eben mal drei Sekunden existent und erwähnenswert – ein sehr überzeugendes Bild. Und dass eben diese Menschheit gerade, in der vierten Sekunde ihrer Existenz, dabei ist, sich flugs wieder abzuschaffen – na, darüber kann doch wohl kein Zweifel bestehen, oder?

Wem Steven Hawkins‘ Illustre Geschichte der Zeit zu trocken und Mel Brooks Verrückte Geschichte der Welt zu albern erscheint, der ist bei diesem herrlichen Theaterabend im Neusser Landestheater bestens aufgehoben.

Ganz wesentliches Erfolgsmoment ist natürlich auch die Musik, wobei man sich in Eigeninterpretation – alles ist wirklich live – einiger wirklich spektakulärer, sehr gut ausgesuchter Welt-Hits bedient, wie unter anderem Final Countdown von Europe, Space Oddity von David Bowie, Sweet Dream von Eurythmics, Toxic von Britney Spears oder den guten alten Frankie mit That´s life und My Way. Die Songs kommen mehr oder weniger gut rüber, was aber auch an den zwei herausragenden Begleitmusikern Jürgen Dahmen und Stefan Gesell liegt, die den großen Sound ganz wunderbar adaptierten und für das kleine Theater stellenweise sogar recht laut interpretierten. Bravi!

Wenn ich Rainer Scharenberg hier etwas heraushebe – pars pro toto – dann nicht nur, weil er sich den ganzen Abend so perfekt auf Stilettos bewegt hat, sondern auch, weil er den Song God´s away on busisness von Tom Waits in wirklich unnachahmlicher Art und Weise interpretiert; ehrlich gesagt – in meinen Ohren – sogar besser als das Original…

Dass dieses wunderbare Team – des Weiteren bestehend aus Kathrin Berg, Johanna Freyja Iacono-Sembritzki und Richard Lingscheidt – durch ihre Schauspielkunst, Tanz- und Bewegungsfreude sowie darstellerische Präsenz die 80 pausenlosen Minuten dieses herausragenden Abends wie im Flug vergehen lässt, spricht für sich. So muss heutiges Theater beschaffen sein, so sollte es präsentiert werden, damit wieder junge Leute die Auditorien der Theater füllen.

Der Rezensent kann sich am Ende dem begeisterten Premierenpublikum im uneingeschränkten Jubel nur anschließen. Bitte hinfahren!

Peter Bilsing 11.11.2018

Bilder (c) RLT Neuss