Neustrelitz: „Dornröschen“, Engelbert Humperdinck

Knüller für dir Vorweihnachtszeit

Wie aufmerksam eine Dramaturgie sein kann und wie man aus der (Corona-)Not eine Tugend macht zeigt sich am Theater Neubrandenburg/Neustrelitz. Während in Berlin die Auslastungszahlen der Opernhäuser unter 3-G-Regeln schon wieder auf 100 Prozent gefahren werden, wie bei "Figaros Hochzeit" (dreieinhalb Stunden!) an der Staatsoper, sind andere Bundesländer noch wesentlich vorsichtiger. So hatte jetzt Engelbert Humperdincks " Dornröschen" als erste Musiktheaterpremiere der Spielzeit 21/22 Premiere, mit eineinhalb Stunden Spieldauer "für Kinder jeden Alters", also als Familienoper, bewußt konzipiert.

Ebenso wie sein Erfolg "Hänsel und Gretel" entstand erst einmal ein Lieder-oder Singspiel (1888), bevor die eigentliche Oper auf ein gereimtes Libretto von Elisabeth Ebeling 1902 in Frankfurt uraufgeführt wurde. Das eigentlich Märchen wurde dabei zu einem Märchenspektakel a la "Peterchens Mondfahrt" aufgepeppt: Prinz Reinholt muß aus der Welt der Zwerge noch Verlobungsringe unter Mithilfe des Elemantargeistes Quecksilber holen, vorher noch im Himmelsreich Morgenstern, Mond und Sonne um Hilfe bitten, dann verliebt sich die böse Fee (Dämonia) in den feschen Jüngling. Also eine einzige Möglichkeit für ordentlich Bühnenzauber in relativ kurzer Zeit. Die Musik ist anmutig, erinnert natürlich an den Märchenton von Humperdincks Welterfolg, aber auch an die jugendstilhaft ornamentalen Klangfloskeln der "Königskinder". Die Form gerät recht hybrid: Opernhaftes wechselt mit reinen Sprechpassagen, aus orchestralen Zwischenspielen führen Melodramen ins Gesungene oder Gesprochene, es nur erinnert, daß die erste Fassung der "Königskinder" ein reines Melodram, also gesprochenes Wort zur Musik, war.

Herausgekommen ist vielleicht kein Meisterwerk, aber sehr hübsche Musik. Das Problem bleibt der selten glücklich gereimte Text, wenn Humor ins Spiel kommt, wie beim ehelichen Gespräch zwischen Mond und Sonne, gerät er am erträglichsten, doch Jasmin Solfaghari, die Regisseurin, beläßt es bei der Ebeling-Fassung, vielleicht würde eine freiere Textbehandlung (wie auf der CPO-Aufnahme des Werkes) geschmeidiger wirken. Auch wenn ein Sängerensemble mit verschiedenen Muttersprachen sich des ohnehin skurilen Textes annimmt, gerät es in manchem Falle leidlich. Ansonsten kann man an Solfagharis Regie wenig aussetzen, denn sie erzählt das Ganze als eine Art Weihnachtsmärchen mit zeitgenössischen Anklängen, die Ausstattung (samt Projektionen) von Walter Schütze unterstützen dabei in jedem Sinne: ein düsterer Schlossaufbau, der ein bisschen an die Villa der Addams-Familie erinnert, wird durch die Drehbühne und immer wieder anderen Perspektiven mittels der Projektionen in die vielen Schauplätze verwandelt. Die Kostüme mit ihren ironischen Anspielungen sind in bester Tradition Kinderoper und erfreuen das Auge. Sehr schön der erkämpfte Weg ins Dornenschloss, der an Computerspiele erinnert.

Die Titelpartie ist relativ klein, doch Marina Medvedeva weiß sie mit lieblichem Sopran und gleicher Ausstrahlung zu füllen, dabei darf sie die ungeschickten Reime sogar einmal "rappen", die kindliche Attitüde der Regie steht der finalen Hochzeit etwas im Wege. Mein Favorit des Abends ist Andres Felipe Orozco als Prinz Reinholt, hervorragende Textgestaltung und -verständlichkeit, treffen auf eine nuancierte Prägung der Gesangspartie, wobei der geschickte Einsatz der Kopfstimme die fehlende Fülle des Tenors raffiniert kaschiert. Ein Künstler, der genau weiß, wie man auf der Bühne wirkt. Bei Syrinx Jessen als Fee Rosa /Sonne ist es genau umgekehrt; ihr fraulich-üppiger Sopran ist wohl die beste Stimme des Abends, doch vom Wort habe ich fast nichts verstanden. Laura Scherwitzl singt mit feinem Sopran die liebenswerte Fee Morphina. Julia Tarasova mit praller Bühnenwirkung die fiese Dämonia, das ihr Mezzosopran etwas verhangen, liegt vielleicht daran, daß sie in ihren Gesangspassagen auf der Bühne unglücklich positioniert wird. Sehr expressiv in Sprache und Gestaltung und luzidem Sopran Misun Kim als Elementargeist Quecksilber, hier hätte ich mir statt des "Pokemon"-Kostüms etwas wirklich Silbriges gewünscht. Die übrigen Beteiligten waren passend besetzt: der präpotente Vaterkönig von Markus Kopp, die larmoyante Königinmutter von Grit Kopatzik, die lustige Schar der Bedienten mit Ramin Varzandeh, Bernd Richert und Krzysztof Napierala, der spukige Schlossvogt von Ryszard Kalus und der komödiantische Mond von Lothar Dreyer.

Daniel Klein am Pult der Neubrandenburger Philharmonie gelang es weitgehend den spätromantischen Duktus Humperdincks mit guter Durchhörbarkeit für Gesang und Sprache zu verbinden. Der Opernchor der TOG Neubrandenburg/Neustrelitz nahm präsent die kleinen Soloaufgaben, wobei vor allem die charmant skurilen Feen des Damenchors im Gedächtnis bleiben. Ein schöner Abend für die ganze Familie, der dem Publikum bis über die Weihnachtszeit Freude bereiten dürfte. Die Premiere fand übrigens zum 100. Todestag von Engelbert Humperdinck statt, der am 27.09.1921, man glaubt es kaum, in Neustrelitz verstarb !

Martin Freitag, 29.9.2021

Dank für die schönen Bilder an (c) Jörg Metzner