Premiere: 23.03.2019, besuchte Vorstellung: 07.04.2019
Unter die Haut
Lieber Opernfreund-Freund,
die ergreifende Geschichte Dead Man Walking, die dem einen oder anderen aus dem gleichnamigen Film mit Susan Sarandon und Sean Penn aus dem Jahr 1996 geläufig sein dürfte, hat im Jahr 2000 den Sprung auf die Opernbühne geschafft und entwickelte sich in kurzer Zeit zum Renner der zeitgenössischen Opernmusik – auch an deutsche Theatern. In der laufenden Spielzeit präsentieren die Theater in Erfurt und Bielefeld das Werk, das 2006 an Semperoper in Dresden zur deutschen Erstaufführung kam. Und auch am Staatstheater Oldenburg ist Dead Man Walking noch bis in den Juli hinein zu sehen. Gestern nun habe ich mir eine Vorstellung für Sie angeschaut – und bin noch immer bewegt.
Moderne klassische Musik wird hierzulande gerne mit ausufernder Atonalität, verfremden Klängen, wenn beispielsweise Styropor oder Reißzwecken Geigen- oder Klaviersaiten malträtieren, schier unsingbaren Partien und zugleich absurden Handlungen gleichgesetzt, mit dem Effekt, dass selbst Kenner und Liebhaber von Klassik und Oper mit dem Ergebnis oft wenig anfangen können. In den USA, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, nähert man sich heutzutage dieser Kunstform anders. Man lässt Einflüsse von Jazz, Gospel, Filmmusik und Rock ’n‘ Roll bewusst zu und setzt u.a. auf aktuelle Stoffe, die nicht selten bereits als Filmhit auf der Leinwand zu sehen waren – und spielt sie vor ausverkauften Häusern.
So ist es auch Dead Man Walking ergangen, der oscarprämierten Verfilmung des gleichnamigen Buches der Nonne Helen Prejean, die sich seit Beginn der 1980er Jahre um zum Tode Verurteilte kümmert – erst als Brieffreundin, später auch persönlich – und die als Gallionsfigur der Gegner der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten gilt. Von einem fiktiven Gefangenen handelt die Geschichte, der in der Oper Joseph De Rocher heißt, einem verurteilten Vergewaltiger und Mörder, der sich angesichts der nahenden Todes durch die Giftspritze an Prejean wendet, in der Hoffnung darauf, mit ihrer Hilfe eine Begnadigung zu erreichen. Die Oper setzt dabei – wie auch schon der Film – ein Hauptaugenmerk auf die Suche der Nonne nach der Wahrheit und die Uneinsichtigkeit des Mörders, der die Tat bis Minuten vor der Hinrichtung abstreitet. Auch seine Familie hilft ihm bei der Verdrängung der Tat, beim letzten Besuch seiner Mutter verhindert die ein Geständnis ihr gegenüber, damit sie den Tatsachen nicht ins Gesicht sehen muss. Erst Minuten vor der Hinrichtung gesteht de Rocher gegenüber Schwester Helen die Tat und bittet in seinen letzten Worten die Angehörigen seiner Opfer um Vergebung. Die hatten Helen zuvor vorgeworfen, sich auf die falsche Seite geschlagen zu haben.
Die nahezu leere Bühne von Jamie Vartan wird immer wieder durch herabgelassene Gefängnisgitter begrenzt, mehr braucht es nicht, um die Beklommenheit der Situation zu visualisieren. Das ausgefeilte Licht von Arne Waldl schafft zusätzlich Bedrohung, so dass mit wenigen Requisiten der Boden bereitet ist für die eindringliche Inszenierung von Olivia Fuchs. Die 80er-Jahre-Mode spiegelt sich in den Kostümen von Zahra Mansouri wider, danke ihr und aufgrund der genauen Zeichnung der einzelnen Charaktere erscheinen die Protagonisten selbst in Massenszenen als Individuen. Die Tat selbst und die Hinrichtung werden in drastischen Bildern gezeigt. Das ist nichts für schwache Nerven – wie das ganze Thema an sich. Die Regisseurin beleuchtet alle Aspekte, das Zwiegespräch zwischen Schwester und Mörder, das Ringen von beiden mit sich selbst, das Warten auf das Urteil des Bewährungsausschusses und schließlich die Hinrichtung mit nicht nachlassender Intensität. Das geht unter die Haut, lässt mitfühlen, nachdenken, hallt lange nach. Genau so muss Musiktheater heute sein!
Was da aber auch künstlerisch geleistet wird, verdient höchsten Respekt. Allen voran ist die umwerfende Leistung von Melanie Lang zu nennen, die als Schwester Helen Prejean über sich hinauswächst. Nahezu ständig auf der Bühne, bewältigt sie diese Monsterpartie nicht nur, sondern füllt sie bis in die letzte Faser aus. Ihr klangschöner, voluminöser Mezzo brilliert in den Momenten der Kampfeslust und der Hoffnung mit nie nachlassender Kraft und vermag bis zu den letzten zarten Tönen des Gospels, mit dem das Werk endet, immer auch wieder aufs Innigste zu berühren. Kihun Yoon gibt den Joseph De Rocher als selbstverliebten Macho mit einschmeichelnden Piani und dreckig-verdorbener Tiefe. Man nimmt dem Südkoreaner, dessen Figur sich der Aussichtslosigkeit ihrer Situation nur zögernd stellt, die Verzweiflung ebenso ab wie den Selbstbetrug, sein imposanter, farbenreicher Bariton verfügt über große Wandlungsfähigkeit. Einen Gänsehautmoment habe ich beim innbrünstigen Appell von Josephs Mutter vor dem Bewährungsausschuss, den Ann-Beth Solvang so intensiv gestaltet, dass man kaum zu blinzeln wagt, um ja keine Millisekunde ihres eindringlichen Spiels und ihres bewegenden Gesangs zu verpassen. Auch die Eltern der ermordeten Jugendlichen imponieren durch eindringliches Spiel, perfekte Intonation und intensiv-anrührenden Gesang. Martha Eason, Erica Back und Timo Schabel leisten Großartiges und spielen tadellos. Dass aber Stephen K. Foster „erst“ Mitglied im Opernstudio ist, mag ich kaum glauben – so bühnenpräsent ist sein Auftritt als Owen Hart, so vollkommen und kraftgeladen ist sein raumfüllender Bassbariton. Da darf man auf die musikalische Zukunft des jungen Künstlers gespannt sein, der überdies noch die Rolle des ersten Gefängniswärters für den erkrankten Andreas Lütje von der Seite singt. Gegen ein solches Powerseptett haben es Henry Kiichlis Gefängnisdirektor und Sandro Montis Pater Grenville schwer.
Beeindruckend ist das Dirigat von Carlos Vásquez, das die außergewöhnliche Partitur in all ihrer Schroffheit und Brutalität zeigt. Er entfacht im Graben zusammen mit dem Oldenburgischen Staatsorchester ein wahres Klangfeuerwerk, gesteht jeder zitierten Musikrichtung ihr Existenzrecht zu und verwebt die einzelnen Stile zu einem großen, imposanten Ganzen. Der glänzend disponierte Chor, von Markus Popp betreut, tut ein Übriges, damit es ein perfekter Abend wird. Nach der Hinrichtungsszene herrscht naturgemäß betroffene Stille im voll besetzten Saal, der sich in einem wahren Jubelorkan entlädt. Die Story, der packende Stilmix des Komponisten Jake Heggie, die fesselnde szenische Umsetzung sowie der fast makellose musikalisch-künstlerische Teil sorgen dafür, dass dieser eindringliche Appell gegen die Todesstrafe zum vielleicht bewegendsten Theaterabend der laufenden Saison wird.
Ihr Jochen Rüth 08.04.2019
Die Fotos stammen von Stephan Walzl.