Oldenburg: „Lucia di Lammermoor“

Premiere am 08.12.2018

Edgardo bleibt am Leben

Die Titelpartie in Gaetano Donizettis Oper Lucia di Lammermoor ist eine der anspruchsvollsten Partien des Belcanto-Repertoires. Man bedenke, dass es in den 50er und 60er Jahren Sängerinnen wie Maria Callas, Joan Sutherland oder Beverly Sills waren, die das Werk wieder populär machten und gleichzeitig Maßstäbe für die Partie der Lucia setzten. Wenn ein Haus wie Oldenburg diese Rolle mit Sooyeon Lee aus dem eigenen Ensemble so hervorragend besetzen kann, das keine Wünsche offen bleiben, ist das schon bemerkenswert.

Wobei man aber sagen muss, dass auch Nerita Pokvytyté die Partie vor einem Jahr in Bremen gut bewältigt hatte. Während die Bremer Inszenierung von Paul-Georg Dittrich aber szenisch überfrachtet war und viel überflüssiges Beiwerk enthielt, fällt die Oldenburger Version in der Regie von Stephen Lawless hingegen eher schlicht aus. Es gibt hier kaum etwas, was nicht in jedem Opernführer nachzulesen ist, wenn man einmal davon absieht, das Edgardo hier am Ende von seinem Selbstmord abgehalten wird. Das ist per se nichts Schlechtes – auch in einer „altmodischen“ Inszenierung kann sich spannendes Musiktheater entfalten. Allerdings müsste die Personenführung dann etwas ausgefeilter sein. Vieles wirkt einfach nur bieder. Vor allem die Behandlung des Chors fällt hier etwas unbeholfen aus, dessen Auftritte zu pauschal und weitgehend statisch geraten. Ein paar Akzente setzt aber auch Stephen Lawless. So wird ein riesiger Hirsch von Enricos Jagdgesellschaft auf die Bühne geschleppt und ausgeweidet.

Und es wird viel getrunken: Enrico und Edgardo greifen ständig zum Flachmann. Bei der sonst oft gestrichenen, aber hier erfreulicherweise enthaltenen ersten Szene des dritten Aktes mit einer eindrucksvollen Gewitterstimmung ist Edgardo regelrecht betrunken. Zur Einleitung des zweiten Bildes im ersten Akt sitzt Lucia an einer Harfe und erwartet träumerisch ihren Edgardo. Das Bild eines nächtlichen, nebelverhangenen Friedhofs verstärkt die unheilvolle Stimmung. Überhaupt das Bühnenbild: Verschiebbare Wände und diverse Requisiten wie Sarg, Kronleuchter oder Schreibtisch markieren geschickt und nahtlos immer neue Schauplätze. Die Entwürfe stammen von Benoîit Dugardyn, der aber überraschend verstorben ist. Lionel Lesire ist eingesprungen und hat die Durchführung übernommen. Beim Schlussbeifall hielt Lesire ein großes Photo von Dugardyn in den Händen – eine sympathische Geste.

Musikalisch bereitet die Oldenburger Lucia reinsten Genuss. Sooyeon Lee ist der Partie der Lucia in jedem Moment gewachsen. Sie setzt die Töne mitunter etwas vorsichtig an, kann aber mit herrlichem Piano und technisch perfekten Koloraturen begeistern. Ihre Wahnsinnsszene, bei der sich ihre Stimme und die Flöte in einem subtilen Duett umspielen, wird man so schnell nicht vergessen. Als Edgardo setzt Jason Kim seinen robusten, aber auch zu empfindsamer Lyrik fähigen Tenor effektvoll ein. Seine Verzweiflung am Ende geht zu Herzen. Die Tristesse der Szene wird durch sanfte Schneeflocken verstärkt. Kihun Yoon hat man schon markanter gehört, dennoch beweist er als Enrico mit dunklem Bariton gestalterisches Format und kann gleich mit seiner Auftrittsarie seine zielgerichtete Autorität unterstreichen. Philipp Kapeller gibt den von Lucia ungewollten Verlobten Arturo mit ansprechendem Tenor als selbstgefälligen Schnösel.

Der Priester Raimondo wird von Tomasz Wija teils durch mitfühlende Güte, teils durch energisches Handeln charakterisiert. Seine Partie wird in dieser Inszenierung aufgewertet, weil das sonst nie gespielte große Duett zwischen ihm und Lucia vor dem Hochzeitsbild hier berücksichtigt wird. Die Partien der Alisa und des Normanno werden von Ann-Beth Solvang und Timo Schabel gut erfüllt. Ein Sonderlob gebührt dem klangvoll und intensiv singenden Chor in der Einstudierung von Markus Popp.

Die musikalische Leitung dieser ohne Striche gespielten Lucia liegt in den Händen von Vito Cristofaro, der sich einmal mehr als energiegeladener, umsichtiger Dirigent erweist. Er scheut mitunter nicht die knalligen Effekte, geht in Tempo und Dynamik hervorragend auf seine Sänger ein und sorgt für veritable Dramatik, etwa in dem hitzigen Sextett.

Wolfgang Denker, 9.12.2018

Fotos von Stephan Walzl