Oldenburg: „Orpheus in der Unterwelt“

Premiere am 10.10.2018

Der Olymp in Zeiten des Internets

Auf die Frage, was man bei seiner Inszenierung von Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ im Kleinen Haus des Oldenburgischen Staatstheaters erwarten könne, sagte Regisseur Felix Schrödinger: „Den Zuschauer erwartet all das, was man von einer guten Operette erwarten kann: Humor, schmissige Musik, Tanz, Erotik und – typisch für Offenbach – eine große Portion Gesellschaftskritik.“ Er hat nicht zuviel versprochen.

Die Gesellschaftskritik bezieht sich in dem Werk allerdings auf die Zustände zu Offenbachs Zeiten. Um sie in unsere Zeit zu transportieren, hat Schrödinger eine eigene Textfassung geschrieben, bei der das Internet mit Facebook und Twitter sowie die Boulevard-Presse eine zentrale Rolle spielen. Denn das sind die Medien, die heute die öffentliche Meinung bestimmen. Diese Öffentliche Meinung ist in Offenbachs Werk als Figur personifiziert. Hier tritt sie als Managerin von Orpheus, als Reporterin oder als Spielmacherin auf. Melanie Lang macht das souverän.

Die Handlung der Operette lässt Schrödinger dabei in seiner Version unangetastet. Die olympischen Götter bleiben auch bei ihm Götter. Aber das heutige Publikum soll sich wiedererkennen, wie das bei der Uraufführung 1858 in Paris im Théâtre des Bouffes-Parsiens auch war. Da eine Scheidung für einen Violinprofessor, der Orpheus bei Offenbach ist, heute kein Skandal mehr wäre, mutiert Orpheus bei Schrödinger zu einem Popstar wie David Garrett.

Kostüm und Maske unterstreichen das. Und als solcher muss er darauf achten, dass das liebgewonnene Bild des Publikums nicht beschädigt wird, damit es keinen Karriereknick bedeutet. Die Managerin verbietet die Scheidung, also wird Eurydike mit Hilfe von Pluto in die Unterwelt entsorgt. Aber da bricht ein Shitstorm los, dessen Auswüchse in Internet und Presse alle auf den Gazevorhang, hinter dem das Orchester postiert ist, projiziert werden (Bühne von Josefine Smid). „Fick dich“ oder „Du bist die nächste Leiche“ ist da zu lesen. Und auch die Presse-Schlagzeilen wie „Schnulzenfiedler tötet Gattin“ sind nicht zimperlich. Orpheus muss handeln. Leider haben auch die Götter, die ständig mit ihren Tablets hantieren, Interesse an dem Vorfall. Insbesondere Jupiter gelüstet es nach Eurydike und will ihr in Gestalt einer Fliege näherkommen. Und da kommt die von Schrödinger versprochene Erotik ins Spiel. Wenn Eurydike sich wollüstig auf dem Boden wälzt, wenn die (unsichtbare) Fliege ihr in den Ausschnitt krabbelt, sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Ansonsten ist aber in der Hölle zunächst Schluss mit lustig: Handy-Verbot und kein Internet. Dafür gibt es mit dem berühmten Höllen-Cancan eine ausgelassene Party, bei der alle Hemmungen fallen. Die Öffentlichkeit ist ja ausgesperrt. Am Ende, wenn Orpheus widerwillig seine Eurydike aus der Unterwelt führt, bricht er das Verbot, sich umzudrehen. Nicht, weil er nach Eurydike schauen will, sondern weil ein Handy klingelt. Modern times.

Schrödingers Konzept geht, von ein paar langatmigen Momenten abgesehen, durchgängig auf. Der Charakter eine Operette wird dabei in Richtung Boulevard-Theater verschoben. Aber das ist kurzweilig und handwerklich gut umgesetzt. Dabei kann er auf ein engagiertes Ensemble setzen. Martha Eason ist eine ebenso zickige wie laszive Eurydike, deren Spitzentöne effektvoll in den Raum knallen. Timo Schabel gibt den Orpheus als eitlen, aber unentschlossenen Popstar und hratzt sogar eigenhändig die Fidel. Der Blitze schleudernde Jupiter von Jason Kim ist ein stets um Contenance bemühter Göttervater. Pluto, das schwarze Schaf der Familie, wird überzeugend von Paul Brady gespielt. Seinen Diener Hans Styx, der sich schon mal gern in dem Kühlschrank mit den vielen Flaschen versteckt, gibt Stefan Vitu als vertrottelte Figur. Auch die anderen Mitglieder der Götterwelt zeichnet Schrödinger mit eigenständigem Profil, etwa Sharon Starkmann als keifende Juno, Hagar Sharvit als lockenköpfiger und liebenswerter Cupido, Tomasz Wija in Frauenkleidern als skurrile Venus oder Martyna Cymerman als forsche und schönstimmige Diana.

Dass die Musik von Offenbach bei allen Turbulenzen nicht zu kurz kommt, dafür sorgen besonders der von Markus Popp einstudierte Chor und das Oldenburgische Staatsorchester unter Carlos Vázquez. Schade nur, dass man die schöne Ouvertüre weggelassen hat.

Wolfgang Denker, 11.10.2018

Fotos von Stephan Walzl