Viele Jahre lang hat der Frankfurter Opernintendant Bernd Loebe die immer drängenderen Fragen nach einer Neuproduktion der Aida mit dem Hinweis auf die Neuenfels-Inszenierung von 1981 zurückgewiesen. Die Erinnerung daran sei noch so präsent, die Produktion so stark, so prägend gewesen, daß man sich da nicht dranwagen wolle. Die Rede ist immerhin von einem handfesten Theaterskandal mit Bombendrohung vor der Premiere und tumultartigem Verlauf der Vorstellung. Der SPIEGEL berichtete seinerzeit:
„Noch vor der Ouvertüre ließ ein Schöngeist vom Balkon DIN-A5-Pamphlete flattern, auf denen er als »Götz von Berlichingen« gegen die »Verdi-Persiflage« krakeelte: »Erst das Publikum beschimpfen, jetzt verarschen!« Während des ersten Bildes probierten Zwischenrufer ein Crescendo des großen Tons: »Schweinerei«, »Sauerei«, »Verdammte Sauerei«. Jeden Bildwechsel untermalten Trillerpfeifer, viele Nuancen aus dem Orchestergraben gingen im Chor der Befangenen unter. Am Ende flippte das halbe Haus aus.“
Bei der nun nach über 40 Jahren doch endlich angesetzten Neuproduktion ruft im Publikum niemand dazwischen. Erst recht stören keine Trillerpfeifen die Bildwechsel. Auffällig ist aber, daß sich auch sonst kaum einmal eine Hand zu einem Zwischenapplaus rührt. Schon zu Beginn, bei „Celeste Aida“, der berühmten Auftrittsarie des Radamès, deren exponierten Schlußton Stefano La Colla zu tief intoniert, aber dafür sehr laut und lange in Dissonanz zu dem Orchesterakkord darunter aushält, dauert es mehrere Schrecksekunden, bis dann doch jemand „Bravo!“ ruft und ein Häufchen Entschlossener applaudiert. Viel später erhält dann Guanqun Yu in der Titelrolle die verdiente Anerkennung des Publikums für ein mit ergreifender Innigkeit dargebotenes „O patria mia“. Ansonsten herrscht selbst bei den applausheischendsten Szenenschlüssen geradezu eisige Stille. Dafür gibt es auf der Bühne reichlich Gestöhne und sonstige außermusikalische Geräusche, leider nicht selten in die Musik hinein. Den Anfang macht Andreas Bauer Kanabas als Oberpriester Ramfis.
Die Regie zeichnet ihn als nervliches Wrack, einen Zyniker der Macht, den offenbar die Schuld am Tod der jungen Männer, die er in den Krieg geschickt hat, psychisch zerrüttet, so daß er Stimmen hört und nur mit der Einnahme von Drogen noch funktionieren kann. Mitunter stöhnt oder lacht er verzweifelt in die Musik hinein. Zu den Klängen des Priesterchors spricht er höhnisch die Worte mit, in denen die oberste Gottheit als „Quelle der Liebe“ verklärt wird. Dieser Ramfis ist die zentrale politische Instanz in einem autoritären Staat, der sich offenbar schon seit langer Zeit in einem Krieg befindet und dessen vergreiste und versehrte Elite sich in einen abgeranzten Bunker verkrochen hat. Das Einheitsbühnenbild von Katharina Schlipft kommt Opernfreunden mit gutem Gedächtnis bekannt vor. Es ist eins zu eins von der Heidelberger Produktion derselben Regisseurin mit derselben Bühnenbildnerin aus dem Jahr 2011 übernommen worden: Ein hoher Raum mit schmuddeligen weißen Kacheln, hohen Flügeltüren, Art-deco-Wandlampen und einer Galerie für die Auftritte des Königs.
Wie in Heidelberg seinerzeit desinfizieren zu Beginn mit Mundschutz versehene Dienerinnen eine blutbesudelte Kammer, in der am Ende das tragische Liebespaar sein Leben in sanftem Dur aushauchen wird. Es gibt dasselbe Wasserbassin im Boden, das so hübsche Lichtreflexionen an die Wände wirft. Es gibt dieselben metaphorischen Vogelgestalten, die mit blutigen Schnäbeln auf ein kindliches Double von Radamès einhacken. Liest man die Kritiken zur Heidelberger Premiere, dann findet man darin das nun als Neuproduktion ausgegebene Geschehen auf der Frankfurter Bühne vollständig wieder. So etwas ist keine Seltenheit. Der Wiesbadener Rosenkavalier von 2019 etwa ist ein Remake der Inszenierung desselben Produktionsteams für die Berliner Staatsoper, Christof Loys Frankfurter Cosi fan tutte wurde in gekürzter Form als Corona-Inszenierung 2021 zum Erfolg bei den Salzburger Festspielen. Warum auch nicht? Lydia Steier hat schließlich kein Geheimnis daraus gemacht, daß die Frankfurter Aida eine „Weiterentwicklung“ ihrer Heidelberger Inszenierung ist. Bloß: Was hat sich da entwickelt? Ihr Ausgangspunkt 2011 sei der „arabische Frühling“ gewesen, hat die Regisseurin in einem Interview der Frankfurter Rundschau verraten. Nun spüre sie aktuelle Bezüge zu gegenwärtigen Stellungskriegen (gemeint ist wohl insbesondere Rußlands Krieg gegen die Ukraine). Wenn aber dasselbe Setting einmal mit diesem und einmal mit jenem theoretischen Überbau versehen werden kann, zeigt sich darin eine gewisse Beliebigkeit. Interieur und Kostüme (Siegfried Zoller) lehnen sich ohnehin stärker an die Mode der 20er und 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts an. So erinnern insbesondere die satirisch überzeichneten Ägypter an Karikaturen von George Grosz.
Neben der deutlichen Aufwertung der Figur des Ramfis erhält auch die eifersüchtige Prinzessin Amneris ein deutlich geschärftes Profil. Sie wird als sadistische Diktatorentochter gezeigt, hinter deren unvermittelt ausbrechenden, blutigen Gewaltexzessen gegen ihre Dienerinnen ein gefährlicher Wahnsinn aufblitzt. Es ist geradezu erschreckend, wie plastisch und glaubwürdig Claudia Mahnke ihrer tückischen Boshaftigkeit Gestalt verleiht. Wo Ramfis maximal kaputt erscheint, ist Amneris maximal böse. Das tragische Liebespaar wirkt demgegenüber fast langweilig: Radamès, ein naiver Hausmeister, der mangels anderer junger Männer unversehens zum Kriegshelden aufsteigt, Aida, eine zur Sklavin degradierte Kriegsgefangene, die alles verloren hat und der nichts als ihre Liebe zu Radamès bleibt, dem sie konsequent bis in den Tod folgt. Zur Figur des Amonasro, des Anführers der Kriegsgegner, ist der Regie allerdings auch nichts weiter eingefallen, als ihn als Fanatiker darzustellen, der den ägyptischen Potentaten moralisch keinen Deut überlegen ist. Alle anderen Figuren, der senile König eingeschlossen, sind bloße Karikaturen.
Damit auch dem Letzten im Publikum klar wird, was die aufgepeitschten Massen mit ihren Schlachtrufen da besingen, schließt sich vor dem berühmten Triumphmarsch der Vorhang, das Licht wird sogar im Orchestergraben gelöscht und der Zuschauersaal versinkt so in völliger Dunkelheit. Dann tönt aus Lautsprechern im Surroundmodus der Lärm eines Luftangriffs, das Knattern der Flugzeugmotoren, das Geheul der Sturzflüge, das Rattern von Maschinengewehren, das dumpfe Einschlagen der Bomben. Die Dauer dieses ohrenbetäubenden Lärms reizt die Erträglichkeitsschwelle aus. Dann setzen die Trompeten ein, doch dem Triumphmarsch ist bereits jede Feierlichkeit und aller Glanz ausgetrieben worden. Das ist viel überzeugender, als man es zuletzt mit ähnlicher Intention in Calixto Bieitos Inszenierung an der Berliner Lindenoper sehen konnte, wo das abgedroschenste aller Regiemittel zum Einsatz kam, nämlich das Einspielen von Filmchen, in denen dann eben auch einmal ein Kriegsgeschehen auf die Kulissen projiziert wird. Lydia Steier macht sich auch noch über den Ausstattungspomp konservativer Inszenierungen à la Arena di Verona lustig, indem sie als Elefanten verkleidete Tänzerinnen durch eine übermütige Siegesparty hüpfen läßt und auch hier wieder die Wendung ins Bösartige nimmt, wenn den hereingeführten Kriegsgefangenen graue Säcke mit Rüsseln und Schlappohren über die Köpfe gestülpt werden.
Es ist keine „schöne“ Inszenierung und schon gar keine erbauliche. Aber das Stück hat auch keine erbauliche Handlung. Das Kriegsgeschrei der aufgepeitschten Massen, die hohlen religiösen Rituale und die kalte, menschenverachtende Staatsräson, welche die kleinen Leben der Protagonisten regelrecht zermalmt, das alles wird bei tradierten Lesarten in ihrem Ausstattungsplunder mit exotischem Parfüm besprüht und zur pseudo-historischen Folklore mit Liebestod verharmlost. Bei Lydia Steier dagegen werden die Gnadenlosigkeit eines Krieges, in dem die Jugend des Landes in den Knochenmühlen der Front zermahlen wird, und die psychischen Zerrüttungen der Überlebenden bis hin zu den Befehlshabern schonungslos ausgestellt. Bei aller Lust an Drastik und mitunter geradezu greller Überdeutlichkeit muß man der Regisseurin bescheinigen, daß sie ihre Version der Geschichte konsequent und handwerklich gekonnt erzählt. Sie beherrscht dabei sowohl das effektvolle Arrangieren von Massenszenen, die sie wie knallbunte, proppenvolle Wimmelbilder mit Dutzenden von Details belebt, als auch die psychologisch plausible Personenführung in den kontrastierenden kammerspielartigen Szenen. Ihre Darsteller folgen ihr offenbar gerne und überzeugen ausnahmslos, sogar der sonst so ungelenke Stefano La Colla. Die szenische Dichte, mitunter auch Überfülle, ist zu keinem Zeitpunkt langweilig. Die differenzierte Lichtregie von Joachim Klein wirkt dabei als enormer Stimmungsverstärker.
Ein wenig tritt demgegenüber die Musik in den Hintergrund. Vielleicht ist auch das die Erklärung für den nur spärlich aufkommenden Szenenapplaus. Dabei wird gut, mitunter großartig gesungen. Als Stimmschauspieler von Graden können sich angesichts der ausgefeilten Rollenporträts besonders Claudia Mahnke und Andreas Bauer Kanabas profilieren. Bei beiden geht es weniger um Schöngesang als um Beglaubigung innerer Zustände. Bauer Kanabas nutzt seinen dunkel schattierten Baßbariton für machtvoll-autoritäres Auftrumpfen, während das Zeichnen einer gebrochenen Figur seinem Schauspieltalent vorbehalten bleibt. Die Amneris ist von Verdi vielschichtiger angelegt, was die Mahnke mit einer Fülle von Farbschattierungen faszinierend nachzeichnet. Musikalisch weiß sie insbesondere mit ihrer satten, dramatisch-glühenden Höhenlage zu beeindrucken, während die Mittellage im Konversationston auch Schroffheit zuläßt. Das Gegenbild bietet geradezu idealtypisch Guanqun Yu in der Titelpartie mit ihrem strahlend leuchtenden Sopran. Im Liebestod führt sie das Duett mit Stefano La Colla an, dessen robusten Spintotenor sie zu besänftigen scheint. Doch schon zuvor hat La Colla bewiesen, daß er zu mehr als lauter Pose fähig ist, und eine ungewohnt differenzierte dynamische Bandbreite gezeigt. Über einige in der Intonation nach unten gerutschte Spitzentöne sieht man angesichts dieses erfolgreichen Bemühens um Gestaltung gerne hinweg.
Umwerfend ist Nicholas Brownlee als Amonasro. Sein üppiger Baßbariton mit den saftigen Höhen paßt zur Rolle wie angegossen. Kiwan Sim verleiht dem König mit seiner ebenmäßigen Stimme eine noble Autorität, die im Kontrast zur Zeichnung der Figur als hinfälliger Greis steht. Gespannt sein darf man auf die letzten vier Aufführungen des Premierenzyklus, in denen Kim mit Bauer Kanabas die Rollen tauscht. In seinem kurzen Auftritt als Bote zeigt Kudaibergen Abildins frischer Tenor mit virilem Kern Potential für gewichtigere Partien.
Erik Nielsen gelingt es mit dem Orchester kaum, musikalisches Profil zu gewinnen. Die Streicher wirken schon im Vorspiel ungewohnt fahl, vieles klingt im weiteren Verlauf wie ausbuchstabiert. Viel zu früh wird es im zweiten Akt viel zu laut, regelrecht lärmend. Am ehesten überzeugen noch die Balletteinlagen mit ihren farbigen Exotismen.
Am Ende gibt es beim Auftritt des Regieteams dann doch noch lautstarke Proteste. Wie üblich versuchen einige wackere Bravo-Rufer dagegenzuhalten, doch die Empörten sind in der Überzahl. Da das Frankfurter Publikum sich in der Vergangenheit gegenüber elaborierten Regieansätzen oft aufgeschlossen gezeigt hat, sollte man die Proteste nicht allzu leicht als reaktionäres Aufbegehren abtun. Womöglich war es einigen der Protestierer politisch zu platt, eine dekadente Machtelite zu karikieren, zu wohlfeil, die Schrecken des Krieges als realen Kanonendonner zu implantieren, alles viel zu dick aufgetragen und damit zu agitatorisch. Die Haltung der Inszenierung und ihre Drastik muß man nicht mögen. Unbestreitbar bietet diese Produktion aber saftiges, opulent ausgestattetes und handwerklich detailliert ausgearbeitetes Musiktheater.
Michael Demel, 5. Dezember 2023
Aida
Opera lirica von Giuseppe Verdi
Oper Frankfurt
Premiere am 3. Dezember 2023
Inszenierung: Lydia Steier
Musikalische Leitung: Erik Nielsen
Frankfurter Opern- und Museumsorchester