Jahrzehntelang scheute sich die Oper Frankfurt vor einer Neuinszenierung der Aida, da das Haus im Jahr 1981 mit der Neuenfels-Produktion einen legendären Theater-Skandal provoziert hatte und man diese Fußstapfen für zu groß hielt. Man ging dann im vergangenen Jahr kein Risiko ein, sondern präsentierte einen alten Bekannten: Lydia Steiers Aida-Regie samt Bühnenbild von 2011 für das Theater Heidelberg in einem über weite Strecken identischen Remake. Daß die Kollegen von der Zeitschrift „Opernwelt“ Frau Steier (auch) hierfür zur aktuellen „Regisseurin des Jahres“ gekürt haben, zeigt deren kurzes Gedächtnis.
Sei’s drum. Die Inszenierung ist ein typisches Steier-Produkt: Sie zeigt sehr plastisch und durchaus spannend, dabei mitunter drastisch bis zur Brutalität und farbig bis zur grotesken Buntheit die Ursprungshandlung in einem neuen Setting. Hier spielt Aida in einem faschistoiden Unterdrückungsstaat irgendwann in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Die Staatselite, der ein greiser König lediglich zeremoniell vorsteht, hat sich in einen Bunker zurückgezogen. Dort läßt man es sich mit dem Segen einer hohlen Staatsreligion gut gehen, versklavt und mißhandelt Kriegsgefangene und verheizt die Jugend des Landes in immer neuen Schlachten. Allerdings wird dafür das Menschenmaterial allmählich knapp. So wird der Hausmeister Radamès zum General erhoben. Dumm nur, daß er sich in die Kriegsgefangene Aida verliebt. Fatal für ihn, daß auch die sadistische Königstochter Amneris ein Auge auf ihn geworfen hat.
Die Geschichte funktioniert unter diesen neuen Vorzeichen gut, was nicht zuletzt daran liegt, daß der Regisseurin scharf umrissene Rollenporträts gelingen. Zuerst zu nennen ist dabei der Oberpriester Ramfis, der hier zur Hauptfigur wird. Er zieht die Strippen in diesem Unterdrückungssystem, die Monarchie ist nur Fassade. Was diese Gestalt interessant macht, ist, daß ihn die Regie als nervliches Wrack zeichnet, einen Zyniker der Macht, den offenbar die Schuld am Tod der jungen Männer, die er in den Krieg geschickt hat, psychisch zerrüttet, so daß er Stimmen hört und nur mit der Einnahme von Drogen noch funktionieren kann. Mitunter stöhnt oder lacht er verzweifelt in die Musik hinein. Zu den Klängen des Priesterchors spricht er höhnisch die Worte mit, in denen die oberste Gottheit als „Quelle der Liebe“ verklärt wird. Andreas Bauer Kanabas hat diese Rolle wie in der Premiere erneut übernommen und sich regelrecht körperlich angeeignet. Stimmlich gibt er den seelisch versehrten Machtmenschen eindringlich mit seinem dunkel abgetönten, mitunter angerauhten machtvollen Baßbariton.
Ebenfalls in seiner Rolle bewährt ist Iain MacNeil, der den Amonasro mit der glühenden Intensität seines kernigen Baritons als politischen Fanatiker zeichnet. Wiederum imponiert Kudaibergen Abildin in seinem kurzen Auftritt als Bote mit frischem Tenor.
Die Hauptpartien sind ansonsten sämtlich neu besetzt. Bei der Titelrolle hat das Frankfurter Publikum das Glück einer Umbesetzung: Christina Nilsson hat die Partie übernommen, die hier zuletzt mit ihrem umwerfenden Auftritt als Elisabeth im Tannhäuser Begeisterungsstürme entfacht hatte. Ihre Aida klingt ungewohnt hell und klar, mit beinahe mädchenhaftem Ton, der gleichwohl mit einem raumfüllenden Volumen imponiert. An ihrer Seite gibt Young Woo Kim als Radamès ein überzeugendes Hausdebüt. Sein Tenor ruht auf einer bronzen getönten Mittellage und prunkt mit ungefährdeten Höhen. Silvia Beltrami ist die neue Amneris. An diesem Abend benötigt sie ein wenig Zeit, um in die Rolle zu finden. Den ihr von der Regie zugedachten geradezu pathologisch boshaften Charakter vermag sie im zweiten Akt nicht mit der beängstigenden Intensität zu formen, welche Claudia Mahnke vor einem Jahr in der Premiere gezeigt hatte. Auch klingt ihr Mezzosopran bei recht üppigem Vibrato anfangs etwas ältlich. Zu großer Form läuft sie jedoch im vierten Akt auf, wo sie ein glaubwürdiges Porträt einer zwischen Wut, Schmerz und Liebe hin- und hergerissenen Frau zeichnet und nun auch stimmlich mit glühenden Höhen überzeugen kann.
Simon Lim ist neu in der Rolle des Königs und verleiht ihm mit sonorem Baß eine Gravität und Würde, die im Kontrast dazu stehen, daß die Regie die Figur als hinfälligen Greis zeichnet. Die angenehm klare Sopranstimme von Julia Stuart als Priesterin ist lediglich aus dem Off hinter den Kulissen zu vernehmen.
Das Orchester zeigt sich unter der Leitung von Giuseppe Mentuccia in guter Form, bietet ein differenziertes Dynamikspektrum und klingt insgesamt farbiger, als man das von der Premiere in Erinnerung hatte.
Die profilierte Inszenierung sorgt für ein spannendes, pralles Theatererlebnis. Die aktuelle Besetzung präsentiert starke Stimmen bis in die Nebenrollen hinein. Die Stringenz der dargebotenen Handlung scheint das Publikum weitgehend von Zwischenapplaus abgehalten zu haben. Sogar die Szenen- und Aktschlüsse wurden dann nicht unterbrochen, wenn die Handlung auf der Bühne über Szenen- und Aktgrenzen hinweg weiterlief. Erst am Schluß belohnte kräftiger und lang anhaltender Beifall sämtliche Sängerdarsteller, Dirigent und Orchester.
Michael Demel, 13. November 2024
Aida
Opera lirica von Giuseppe Verdi
Oper Frankfurt
Wiederaufnahme am 10. November 2024
Premiere am 3. Dezember 2023
Inszenierung: Lydia Steier
Musikalische Leitung: Giuseppe Mentuccia
Frankfurter Opern- und Museumsorchester