Frankfurt: „Elektra“, Richard Strauss

„Dirigiere ‚Salome‘ und ‚Elektra‘, als seien sie von Mendelssohn: Elfenmusik.“ Dieses Zitat aus „Zehn goldene Regeln. Einem jungen Kapellmeister ins Stammbuch geschrieben“, von Richard Strauss im Jahr 1924 mit leichtem Augenzwinkern aufgestellt, fehlt in keiner Premierenkritik zu Elektra. Wenn man für jede Erwähnung 10 Euro ausgezahlt bekäme, so hätte man finanziell bis zum Ende seiner Tage ausgesorgt. Und doch beginnt auch diese Kritik mit dem zu Tode zitierten Bonmot, denn Sebastian Weigle, scheidender Generalmusikdirektor der Frankfurter Oper, hat in einem Gespräch mit den Kollegen von der FAZ angekündigt, daß es dieses Mal die „leiseste Elektra“ werde, die er je gemacht habe. Bei den Proben habe er selbst darüber gestaunt, wie weit man ein derart riesiges Orchester herunterdimmen könne. Für Weigle schließt sich mit dieser Produktion ein Kreis. Mit dem Gastdirigat von Die Frau ohne Schatten hatte er sich im Jahr 2003 an der Oper Frankfurt als Strauss-Dirigent von hohen Graden eingeführt, war dafür in der Jahresumfrage der Zeitschrift Opernwelt zum Dirigenten des Jahres gekürt worden, hat ab der Spielzeit 2008/2009 als Generalmusikdirektor wichtige Musiktheaterwerke des bayerischen Meisters an seinem Stammhaus herausgebracht und eine Gesamteinspielung des strauss’schen Orchesterwerks auf Tonträger produziert. Zwanzig Jahre nach dem ersten Frankfurter Erfolg bringt Weigle nun mit seinen Musikern die Ernte ein und präsentiert den von ihm zur Perfektion geführten Frankfurter Strauss-Klang. Und tatsächlich: So hat man die Elektra bislang nirgends hören können. Unter Musikkennern ist es Allgemeingut, daß Strauss hier seine radikalste Partitur vorgelegt habe, sehr laut, oft roh, mitunter schrill, die Tonalität bis an die Grenzen auslotend und diese mitunter sogar überschreitend. Aus dem Frankfurter Orchestergraben aber tönt es an diesem Abend klar und differenziert, werden gleich in den ersten Szenen delikate Instrumentierungsdetails herausgearbeitet, die man so noch nie wahrgenommen hatte. Der Klang wird zunächst weniger von den tiefen Registern, dem Blech, dem Schlagwerk dominiert als von den Holzbläsern, die delikat, licht und leuchtend einen in tausend Farben schimmernden Klangteppich weben. Später dann, nachdem Elektra ihren Bruder Orest wiedererkannt hat, badet ihr schwärmerischer Gesang in Streicherwogen. Die allgegenwärtigen Tanzrhythmen erhalten eine Leichtigkeit, die gar auf den Rosenkavalier vorausweist. Selten zuvor klang die Elektra derart nach Strauss. Weigle zeigt, daß die verbreitete Ansicht, der Komponist habe nach diesem angeblich radikalen Solitär anschließend eine Wendung ins Reaktionäre vollzogen, ein akustischer Trugschluß ist. Er beruht auf einer Aufführungstradition, welche die eingangs zitierte Anweisung an die Interpreten als paradoxalen Scherz in den Wind schlägt. Mitunter jedoch genießt Weigle ein wenig zu sehr den Klang seines Orchesters und setzt ein recht gemächliches Tempo an. Das nimmt etwa der marschartigen Auftrittsmusik der Klytämnestra den manischen Charakter.

Chrysothemis und Elektra mit kindlichen Doubles / © Monika Rittershaus

Aile Asszonyi in der Titelpartie nimmt die Vorgaben aus dem Orchestergraben auf und beginnt ihren Auftrittsmonolog dynamisch reduziert mit klarem, gut fokussiertem Sopran. Sie artikuliert präzise und gestaltet den Text differenziert. Mehr und mehr zeigt sie in dynamischen Steigerungen die Kraft ihrer Stimme, die im weiteren Verlauf bis zum Ende keine Ermüdungserscheinungen aufweist. Mit steigender Lautstärke offenbart sich gerade in den Höhenlagen ein recht expansives Vibrato, das aber von der noch jungen Sängerin gut eingehegt werden kann. Die extremen Spitzentöne auf dem Höhepunkt ihres Wortduells mit Klytämnestra („und wer dann noch lebt, der jauchzt und kann sich seines Lebens freun“) erreicht sie nicht. Sie bleiben in einem heftig tremolierenden Ungefähr deutlich zu tief. Das fällt aber vor dem Hintergrund einer beachtlichen Gesamtleistung wenig ins Gewicht.

Die Partie der Klytämnestra, obwohl für einen Mezzo-Sopran geschrieben, ist immer wieder von großen hochdramatischen Sopranistinnen als Altersrolle genutzt worden. Wenn die Höhenlage eine Elektra nicht mehr hergibt, dann versucht man es eben ein halbes Stimmstockwerk darunter. Das kann grandios gelingen, wenn sich die aus langer Erfahrung mit hochdramatischen Partien erwachsende gestalterische Intelligenz mit stimmlicher Autorität in den tiefen und mittleren Lagen verbindet. Hier kann man Susan Bullock, die vor über einem Jahrzehnt selbst als Elektra auf der Frankfurter Bühne zu erleben war, eine sehr präzise und nuancierte Textgestaltung attestieren. Der an zentralen Stellen wichtigen Tiefenlage fehlt es indes an Sonorität, auch das Timbre der Mittellage ist eher blaß. Die Bullock hat sich in ihren Zeiten als Sängerin im hochdramatischen Fach durch ihre helle Stimme mit eher schlanker Höhe ausgezeichnet. Das sind Qualitäten, die bei der Klytämnestra weniger gefragt sind. So bleiben bei ihrem intelligent gestalteten Rollenporträt klanglich Wünsche offen.

Keine Wünsche offen bleiben bei Jennifer Holloway, die mit ihrem jugendlich-frischen, blühenden Sopran eine geradezu ideale Chrysothemis gibt. Man liest, daß sie anderenorts bereits die Salome singt. Bleibt zu hoffen, daß die junge Sängerin ihr wunderbares Material nicht zu früh verschleißt. Der als ehemaliges Ensemblemitglied in Frankfurt auch bereits in der Rolle des Orest bewährte Simon Bailey mußte kurzfristig für den erkrankten Kiwan Sim einspringen und bewältigt die Partie souverän mit seinem kernigen Bariton. Ausgezeichnet besetzt sind die vielen Klein- und Kleinstpartien mit Mitgliedern des Ensembles und des Opernstudios, die sich mitunter erfolgreich in größeren Rollen profiliert haben und hier auch mit kurzen Einsätzen zu glänzen wissen.

Elektra mit Ballet der Diener / © Monika Rittershaus

Die Inszenierung von Claus Guth ist da überzeugend und durchaus originell, wo sie auf die Musik hört. Bebildert wird dann nicht der im Text monströs ausgebreitete Dauerblutrausch, sondern die subtile Finesse der Partitur. Die omnipräsenten Tanzrhythmen etwa setzt der Regisseur in skurrile, oft surreale Balletteinlagen einer stummen Dienerschaft um. Das spiegelt die mitunter doppelbödige Beschwingtheit wider, die Weigle mit seinem Orchester so überraschend wie überzeugend herausarbeitet. Im Übrigen bleibt Guth bei seinem bekannten Inszenierungsstil. Erwartungsgemäß laufen Kinderversionen von Elektra, Chrysothemis und Orest herum, wenig überraschend spukt Agamemnon stumm durch die Kulissen. Dem Handlungskern nähert die Regie sich mit dem Gemeinplatz, daß Hugo von Hofmannsthal sich in seinem Libretto von der zur Entstehungszeit gerade neu aufgekommenen Psychoanalyse und Psychotherapie inspirieren ließ, die antike Tragödie des Sophokles von ihren mythischen Anteilen befreite und zum Seelendrama umformte. Zu sehen sind also drei Frauen mit unbewältigten psychischen Problemen. Elektra als Extremfall ist gefangen in ihren Zwangsvorstellungen. Womöglich gab es den Mord an ihrem Vater Agamemnon als traumatisierendes Ereignis tatsächlich. Die Rückkehr des Orest jedoch, vielleicht sogar dessen Existenz, scheint eine Wahnvorstellung zu sein. Claus Guth hat mit Aile Asszonyi zur äußeren Beglaubigung der gestörten Psyche einige kleine mimische und gestische Ticks erarbeitet, die aber bereits aus dem ersten Rang des Zuschauerraums nur noch mühsam zu erkennen sind. Mitunter sieht man Elektra einfach nur herumsitzen und vor sich hinbrüten.

Bühnenbildnerin Katrin Lea Tag hat die Warnung des Librettisten vor einer „Antikisierung“ sehr genau genommen. Es gibt auch nicht den geringsten Hinweis auf Mykene als Handlungsort. Stattdessen spielt die Handlung – ja wo eigentlich? Jedenfalls wohl in unserer Gegenwart. Das Bühnenbild gibt sich demonstrativ kulissenhaft, beinahe flächig, ohne große räumliche Tiefe. Ein langer Flur mit schlichtem Boden und Notausgangstüren ist so gesichtslos, daß er ebenso einer Behörde wie einer Heilanstalt zugehören könnte. Die mit unterschiedlich intensiv getönten, violetten Längsstreifen unregelmäßig gemusterten Wände sind von erlesener Scheußlichkeit. Sie erweisen sich schließlich als zweidimensionale Umsetzung eines Fransenvorhangs, der violett angeleuchtet im Verlauf des Stückes gelegentlich im vorderen Bereich der Bühne herabgelassen wird und etwa dem Auftritt und Tod des Aegisth eine surreale Anmutung verleiht.

Der Auftritt des Aegisth als Slapstick-Nummer / © Monika Rittershaus

Claus Guth hat sich in einem Interview im Vorfeld der Premiere darüber beschwert, daß trotz seiner intensiven Arbeit mit den Darstellern das Publikum eine Inszenierung größtenteils über die Ausstattung wahrnehme und zudem eine eindeutige Verortung verlange. Aber es hilft ja nichts: Die meisten Plätze im Zuschauerraum haben eine solche Entfernung zu der Bühne, daß ohne Opernglas filigrane Inszenierungsdetails nicht erkannt werden können. Dann sucht man optisch nach grober Orientierung. Die aktuelle Frankfurter Produktion verweigert diese, gestaltet die Interaktion zwischen den Protagonisten letztlich gediegen und versucht der Gefahr des szenischen Leerlaufs mit hinzuerfundenen Figuren entgegenzuwirken. Es handelt sich fraglos um eine der schwächeren Regiearbeiten des in Frankfurt schon oft zur Hochform aufgelaufenen Regisseurs. Der Beifall dafür am Ende ist freundlich und ungeteilt, aber nicht überwältigend. Gefeiert werden dagegen die Protagonisten und Sebastian Weigle mit seinem fabelhaften Orchester, das von seinem Chef zum Schlußapplaus zu Recht auf die Bühne geholt wird.

Michael Demel, 22. März 2023


Richard Strauss: Elektra

Oper Frankfurt

Bericht von der Premiere am 19. März 2023

Inszenierung: Claus Guth
Musikalische Leitung: Sebastian Weigle
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Trailer