Wenn das Publikum den Zuschauersaal betritt, ist das Bühnenbild bereits beleuchtet. Eine Rotunde präsentiert sich in grauem Sichtbeton mit leichtem Braunstich. Ihre Wände sind ineinander verschiebbar und eröffnen Blicke in das Innere. Einzelne Darsteller finden sich auf der Bühne ein, wirken verloren. Das Orchester stimmt derweil im Graben noch die Instrumente. Das Stimmengewirr des Publikums im Saal verdeckt zunächst, daß über Lautsprecher ein mechanisches Ticken zu hören ist. Eine Uhr? Der Zeitzünder eines Sprengsatzes? Aus einem Loch im Boden wird eine schlammbeschmierte weibliche Gestalt gezogen. So gewinnt der „Erdgeist“ aus dem Titel des ersten der beiden Dramen von Frank Wedekind Gestalt, welche Alban Berg durch radikale Striche zu seiner zweiten und letzten Oper Lulu verdichtet hat. Dieses Wesen hat etwas Ungezähmtes, Animalisches, Gefährliches. Nun erst setzt die Musik ein. Kihwan Sim präsentiert als Tierbändiger mit saftigem Baßbariton eine Schlange, „geschaffen, Unheil anzustiften, zu locken, zu verführen, zu vergiften und zu morden – ohne daß es einer spürt“. Es ist die Beschreibung der Kreatur aus dem Loch, welche Regisseurin Nadja Loschky als „Anima“ bezeichnet, wofür die Übersetzung „Seele“ zu schwach scheint. Sie ist in einer ausgefeilten und stets plausiblen Personenregie die Hauptzutat, ist der stumme und unheimliche Begleiter der Titelfigur, eine Projektion ihrer Abgründe. Wenn sie in der ersten Szene des Eingangsaktes an einer Leinwand des Malers vorbeischleicht und diese mit der Hand berührt, quillt brauner Schlamm daraus hervor, in der dritten Szene schaut sie der für einen Auftritt als Tänzerin herausgeputzten Lulu aus einem Spiegel ihrer Garderobe entgegen, schließlich klammert sie sich im zweiten Akt an den von Lulu einzig begehrten Dr. Schön und greift sogar in die Handlung ein, wenn sie diesem in dem Moment die Augen zuhält, als er dazu ansetzt, Lulu zu erschießen.
Von dieser Zutat abgesehen, ist die Regie erfreulich dicht am Text und treibt spannend die Handlung voran. Da gibt es wenig Mätzchen. Ein Beil ist ein Beil, eine Tür ist eine Tür, und wenn im Text davon die Rede ist, daß eine verschlossene Tür mit einem Beil aufgebrochen werden muß, dann ist ebendies zu sehen. Nur an einer Stelle holt die Regisseurin den Zeigefinger hervor und nutzt ein etwas abgedroschenes Inszenierungsmittel: Zum „Lied der Lulu“ („Wenn sich die Menschen um meinetwillen umgebracht haben, so setzt das meinen Wert nicht herab.“) geht das Licht im Saal an, um zu signalisieren, daß die Figur sich hier direkt an das Publikum wendet. Das hätte man auch ohne diesen Wink mit dem Zaunpfahl verstanden.
Die Verlegung des Settings vom Fin de siècle in die Entstehungszeit der Oper, also die späten 1920er und frühen 1930er Jahre, deckt sich mit der Bearbeitung des Textes durch den Komponisten, der etwa die Nachrichtenübermittlung durch Boten aus der Vorlage durch den moderneren Einsatz des Telephons ersetzt hat. Die zeitliche Verortung leisten vor allem die Kostüme von Irina Spreckelmeyer, welche in ihren mal helleren und mal dunkleren Grau-Braun-Weiß-Tönen die Farben des Bühnenbilds aufnehmen und zusammen mit diesem den Eindruck entstehen lassen, als hätte man aus der Ausstattungspracht der Fernsehserie Babylon Berlin die Farbe herausgewaschen. Sogar das Blut des in Notwehr von Lulu erschossenen Dr. Schön quillt schlammig braun aus seinem Hemd. Die rote Farbe von Lulus Kleid im zweiten Akt wirkt im Kontrast dazu umso intensiver.
Mit Deutungen hält sich die Regie angenehm zurück. Lulu bleibt wie in der Vorlage ein Rätsel. Mißbrauchsopfer, Verführerin, Femme fatale – sie ist alles das und nichts davon. Brenda Rae verkörpert diese unausdeutbare Vielschichtigkeit der Titelfigur mit nuanciertem Spiel und vor allem auch musikalisch. Ihrem hellen und koloratursicheren Sopran kann sie die Glut der Leidenschaft ebenso abgewinnen wie schneidende Kälte. Man weiß nie, ob man mit dieser Frau Mitleid haben oder doch vor ihrer gefühlskalten Ausnutzung der ihr verfallenen Liebhaber beiderlei Geschlechts erschaudern soll. Zu Beginn allerdings, in den Konversationspassagen mit dem von Theo Lebow mit der Prägnanz seines hell-herben Tenors gegebenen Malers, gerät ihre Stimme gegenüber dem Orchester ein wenig ins Hintertreffen. Und das, obwohl Thomas Guggeis am Pult auf Transparenz setzt.
Es ist bewundernswert, wie der junge Generalmusikdirektor dem überreichen Stimmengeflecht der Partitur bis in die feinsten Verästelungen nachgeht, ohne dabei den Blick auf die Zusammenhänge zu verlieren, wie er mit seinen hochmotivierten Musikern das Parfüm der Musik erfahrbar macht, den spätromantischen Nachhall im dodekaphonen Bauplan genießt, die Rhythmen zeitgenössischer Modetänze herausarbeitet und diese dichte und überreiche Komposition für das Publikum insgesamt zum Genuß werden läßt. Lediglich im dritten Akt, wo große Teile der Instrumentierung postum vom Komponisten Friedrich Cerha nach dem Particell Alban Bergs vervollständigt wurden, wirken einige Passagen gerade im Vergleich zu den von Berg vollendeten ersten beiden Akten etwas massiv.
Daß Berg statt der willkürlichen Aneinanderreihung von zwölf Tönen Klänge zuläßt, die das Ohr an tradierte Harmonik mit tonalen Inseln erinnern, macht seine Musik für das Publikum goutierbar. Und sie läßt sich wunderbar singen, jedenfalls wenn eine Aufführung mit solchen Prachtstimmen wie hier aufwarten kann. Neben der fabelhaften Brenda Rae singt Simon Neal den Dr. Schön mit kraftvollem, aber auch nobel gerundetem Bariton. AJ Glueckert erinnert als dessen Sohn Alwa daran, daß er in Wagners jugendlichen Heldentenorpartien erfolgreich ist. Claudia Mahnkes dunkel glühender Mezzo muß sich in der Rolle der Gräfin Geschwitz über weite Strecken mit kurzen Einwürfen begnügen, bindet dann aber das Stück im Schlußgesang „Lulu, mein Engel“ ergreifend ab. Kihwan Sim imponiert nach dem Tierbändiger zu Beginn auch später in der Rolle des Athleten mit Zwölfton-Belcanto und genießt es sichtlich, die komödiantischen Anteile seiner Partie auszuspielen. Großartig ist Michael Porter in einer stummen Pantomime als verdruckst-leidenschaftlicher Kammerdiener, überzeugt zuvor als Prinz und später als zwielichtiger Marquis und macht in diesen Rollen mit seinem saftigen Tenor auch stimmlich eine gute Figur. Alfred Reiter kann als schmieriger Schigolch mit seiner nuancierten Textbehandlung punkten, und auch die übrigen kleineren Partien sind aus dem Ensemble wie gewohnt exzellent besetzt.
Wieder einmal eine musikalisch reiche und szenisch überzeugende Produktion, die beim Premierenpublikum im Schlußbeifall auf ungeteilte Zustimmung stößt. So reiht die Oper Frankfurt Spielzeit für Spielzeit Erfolg an Erfolg, und wenn im Anschluß an diese Premiere der Intendant auf die Bühne tritt, um die Auszeichnung für das „Opernhaus des Jahres“ vom Verleger der Zeitschrift „Opernwelt“ entgegenzunehmen, dann wirkt er beinahe aufreizend gleichgültig gegenüber der Ehrung. Auch im Vorjahr hatte man den Titel bereits errungen, im Jahr davor ebenso, insgesamt bislang achtmal. Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg. Man muß gelegentlich Aufführungen an anderen Spitzenhäusern besuchen, etwa zuletzt die einfältig bunte Nabucco-Inszenierung an der Lindenoper Berlin, die ohne den Star-Appeal von Anna Netrebko Zeitverschwendung gewesen wäre, um wertzuschätzen, wie regelmäßig in Frankfurt Ensembleexzellenz, Orchesterniveau, dirigentische Inspiration, herausragende Gäste und szenische Treffsicherheit zusammenkommen. Das bedeutet aber für jede Neuproduktion, daß die Erwartungen sehr hoch liegen. Die neue Lulu hat sie glücklich erfüllt.
Michael Demel, 6. November 2024
Lulu
Oper in drei Akten von Alban Berg
(vervollständigte Fassung von Friedrich Cerha)
Oper Frankfurt
Premiere am 3. November 2024
Inszenierung: Nadja Loschky
Musikalische Leitung: Thomas Guggeis
Frankfurter Opern- und Museumsorchester