Frankfurt: „Manon Lescaut“, Giacomo Puccini

Bericht von der Premiere am 6. Oktober 2019

Psychologische Tiefenzeichnung mit musikalischen Glanzlichtern

Am Ende gibt es einen einsamen Liebestod, den das Libretto in einer Wüste „nahe New Orleans“ verortet. Die aktuelle Frankfurter Produktion von Puccinis Manon Lescaut tut gut daran, diesen Ort so unbestimmt wie abstrakt zu zeichnen. Lediglich eine Skulptur ist auf der leeren Bühne zu sehen: Meterhohe, dreidimensionale Lettern in Waschbetonoptik zeigen das Wort „Love“, zunächst spiegelverkehrt, im Laufe dieses kurzen Schlußaktes durch langsame, kaum merkliche Drehung dann schließlich in richtiger Buchstabenreihenfolge. Die Skulptur wird von der Seite angeleuchtet und wirft seinen gewaltigen, kalten Schatten in eine öde Welt. Dieses Monument der Liebe war vom ersten Akt an präsent. Zunächst hielt es sich im Hintergrund und stützte das Vordach eines Hotels, dann bildete es rot angeleuchtet die Rückfront einer Tabledance-Bar, um dann schließlich freigelegt und isoliert die Trostlosigkeit des Endes zu durchmessen. Gegen diese erstarrte Ödnis glüht aus dem Orchestergraben das Orchester an, tremoliert, bäumt sich auf, während die Titelfigur auf der Bühne in den Armen ihres verzweifelten Geliebten an Erschöpfung stirbt.

Die äußere Leere des Schlußbildes entspricht der inneren Leere der Titelfigur. Zu Beginn wird sie dem Publikum in einer Filmeinspielung als Flüchtling gezeigt, der über einen Grenzzaun illegal einwandert. Wer nun befürchtet hatte, Regisseur Àlex Ollé und sein Team würden nun in schlechter Regisseurstheatertradition eine Oper als Folie für platte politische Botschaften nutzen, sieht sich angenehm überrascht. Der Regisseur nutzt lediglich vordergründig die Chiffren einer sich für engagiert haltenden Inszenierungsmasche und macht damit etwas Erstaunliches: Er formt mit der außerordentlichen Asmik Grigorian in der Titelpartie das tiefenscharfe Porträt einer schillernden Opernfigur. Man sieht in Einspielfilmen, wie die illegal eingewanderte Manon triste Sklavenarbeit in einer Näherei verrichtet, sieht ihren leeren Blick während einer Busfahrt, mit der ihr Bruder sie zurück nach Hause holen will. Dieser jungen Frau ist früh im Leben jede Hoffnung ausgetrieben worden. Man begreift, daß sie zur dauerhaften Beziehung mit dem für sie in Leidenschaft entbrannten Les Grieux nicht fähig ist, erkennt die trostlose Konsequenz, mit der sie sich an den alten Geronte de Ravoir verkauft. Asmik Grigorian ist die ideale Darstellerin für diesen ungeschönten Blick auf eine vielschichtige Figur, die nicht zur Sympathieträgerin taugt. Was diesen Abend dabei zum außerordentlichen Musiktheaterereignis erhebt, ist die völlige Verschmelzung von stimmlichen und darstellerischen Mitteln. Grigorian verfügt über eine der attraktivsten Sopranstimmen im gegenwärtigen Musiktheatergeschäft, technisch makellos, mit der Fähigkeit zu blühender Leuchtkraft und expressiver Eindringlichkeit. Ihre Manon beginnt stimmlich als rotziges Girlie mit aufgesetztem Selbstbewußtsein, weiß mit Männern kokett zu spielen, zeigt im zweiten Akt als Edelprostituierte einen Ton von kalter Selbstgefälligkeit und entwickelt erst am Ende die glühende Emphase der Verzweiflung.

Den armen Tropf Les Grieux, den seine bedingungslose Leidenschaft für diesen schwierigen Charakter ins Verderben stürzt, gibt Joshua Guerrero in einem Rollendebüt als Muster eines Puccinitenors. Der junge Amerikaner verfügt über eine saftige Stimme mit virilem Kern. Zu Beginn scheint er noch nach dem richtigen Ton im operettenhaften ersten Akt zu suchen, zeigt sich dann aber den Anforderungen dieser mit sechs Solonummern umfangreichsten Tenorpartie Puccinis glänzend gewachsen. Die Verismo-typischen angeschluchzten Töne setzt er sparsam und dezent ein. Das Publikum belohnt seinen Einsatz mit Ovationen, die nicht hinter denen für Grigorian zurückstehen.

Dieses Puccini-Traumpaar ist in ein fabelhaftes Ensemble eingebettet. Iurii Samoilov darf seinen cremigen Bariton als Bruder Lescaut zwar nur an wenigen exponierten Stellen vorführen, macht dabei aber wie immer Eindruck. Donato Di Stefano verfügt nach mehreren Jahrzehnten Bühneneinsatzes immer noch über einen eleganten Baß, den er dazu nutzt, den von ihm mimisch mit sichtbarer Spielfreude als schmierigen Zuhälter gezeichneten Geronte stimmlich nicht zur Karikatur verkommen zu lassen. In den übrigen Nebenrollen bewährt sich die vorzügliche Frankfurter Stammbesetzung.

Große Freude bereitet das Dirigat von Lorenzo Viotti, der mit dem glänzend aufgelegten Orchester die Partitur so transparent und farbig entfaltet, daß man dieses Stilamalgam des noch experimentierfreudigen jungen Puccini mit großem Staunen als frühes Meisterwerk erkennt.

Nach der vom Publikum enthusiastisch gefeierten Premiere waren die Folgevorstellungen in wenigen Tagen ausverkauft. Wer sich jetzt noch für einen Besuch der Produktion entscheidet, muß auf Restkarten an der Abendkasse hoffen.

12. Oktober 2019, Michael Demel

© Bilder: Barbara Aumüller