Frankfurt: „Maskerade“, Carl Nielsen

Premiere am 31. Oktober 2021

Reim dich, oder ich freß dich!

Auf ihren Streifzügen am Rande des gängigen Repertoires hat die Oper Frankfurt nun ein Werk ausgegraben, das immerhin in Dänemark den Status einer Nationaloper genießt: Maskerade von Carl Nielsen. Der Stolz des kleinen Nordvolkes auf das außerhalb der Landesgrenzen völlig unbekannte Stück ist so groß, daß die Frankfurter Produktion finanziell vom Dänischen Kultusministerium und der Königlichen Dänischen Botschaft unterstützt wird. Mit Prinzessin Benedikte, der jüngeren Schwester der dänischen Königin, konnte man sogar ein Mitglied des dänischen Königshauses zur Premiere begrüßen.

Der Text basiert auf einer Komödie des bedeutenden nordischen Dichters Ludvig Holberg von 1724. Ein junger Mann verliebt sich auf einem Maskenball in eine unbekannte Schöne. Sein Vater jedoch hat ihn bereits der Tochter eines Geschäftspartners versprochen. Einen neuerlichen Besuch auf einem Maskenball will er verhindern. Der Sohn schleicht sich trotz Ausgehverbots samt Diener aus dem Haus. Auf einem Ball finden sich neben ihm seine verkleidete Mutter, der ihm nachgeeilten Vater samt dessen Diener und die unbekannte Schöne ein, welche sich am Ende als die ohnehin für ihn vorgesehene Verlobte entpuppt.

Die Musik dazu imitiert zwar anders als Edvard Grieg in seiner beliebten Suite nicht den Stil Aus Holbergs Zeit, also des Barock, weist aber etliche Referenzen aus der europäischen Musikgeschichte von Mozarts Singspielen bis zu Wagners Meistersingern auf. Reichlich verwendete Tanzmuster erinnern sowohl an die Operette vom Pariser Typ à la Offenbach als auch an das Wienerische Pendant à la Strauß. Ihre spezifische Färbung bezieht die Partitur aus ungewohnten Harmonierückungen. Der Text wird immer wieder lautmalerisch kommentiert. Im Gegensatz zum Zeitgenossen Richard Strauss meidet Nielsen aber Drastik und Überdeutlichkeit. Auch in den nicht wenigen musikalischen Pointen behält die Komposition einen volkstümlichen Grundton bei. Es ist eine gut konsumierbare, auch beim ersten Hören unmittelbar verständliche und eingängige Musik. Titus Engel arbeitet ihre Vorzüge mit dem glänzend disponierten Orchester plastisch heraus. Der Klang ist farbig und dabei gut durchhörbar. Die stark geforderten Bläser dürfen sich profilieren. Berückend schön etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, gelingt im Vorspiel zum zweiten Akt das Hornsolo, samtig weich und geradezu verträumt. Der dritte Aufzug mit seinen ausgedehnten Tänzen und Balletteinlagen gibt dem Orchester die Gelegenheit, für die Qualitäten des Komponisten zu werben, so daß man Lust verspürt, im eigenen Plattenschrank den Sinfoniker Nielsen wiederzuentdecken.

Glücklich war die Entscheidung des Produktionsteams, die Ballettsequenzen professionellen Tänzern anzuvertrauen. Kinsun Chan hat dafür flüssige und unprätentiöse Choreographien entworfen.

Susan Bullock (Magdelone) und Tänzer

Weniger glücklich ist man mit der Haltung des Regisseurs, trotz einer von Tanzrhythmen durchwebten Partitur außerhalb der dezidierten Ballettszenen auf eine stärkere Fassung der Bewegungsabläufe zu verzichten. Im wie immer lesenswerten Begleitheft erläutert Tobias Kratzer dies so: „Die Inszenierung ist dabei aber nicht durchgehend formal durchchoreographiert. Das führt bei Komödien manchmal zu einer Überbetonung der puren Mechanik, die mich nicht so interessiert.“ Damit setzt Kratzer einen Kontrapunkt zu R. B. Schlather, dessen präzise kalkulierten Bewegungsabläufe in der vorangegangenen Premiere Cimarosas L‘taliana in Londra zum spritzig-intelligenten Vergnügen gemacht haben (unsere Kritik). Im direkten Vergleich gewinnt man den Eindruck, daß Kratzer regelrecht vor dem Stück kapituliert hat. Aus dem trostlos grauen Bühnenbild von Rainer Sellmaier vermag er kaum Funken zu schlagen. Auch die Entscheidung des Produktionsteams, die Protagonisten (wieder einmal) in aktuelle Straßenkleidung (mitunter auch bloß Unterwäsche) statt in historisierende Kostüme zu stecken, verstärkt den Eindruck szenischer Beliebigkeit. Zu sehen sind oft Allerweltsgesten von Darstellern in Allerweltskleidung. Mitunter erschöpfen sich die Regieideen im Standardrepertoire von Boulevardkomödien: Tür auf, Tür zu, einer rein, einer raus. Wenn im abschließenden dritten Aufzug dann der Maskenball anhebt, besteht die Kostümierung im banalen Geschlechtertausch. Und wo außerhalb der Balletteinsätze von Profitänzern nun Choristen und Solisten tanzen sollen, knäulen sie sich auf einer Tanzfläche und vollführen bemühtes Discogehopse.

Dorfdisco in Kopenhagen statt Maskerade

Falls der Regisseur zu dem Stück etwas zu sagen hat, kann er es gut verstecken. Es scheint vielmehr so, daß Kratzer aus nackter Inszenierungsnot eine Tugend zu machen versucht, eine bei ihm ungewohnte Einfallslosigkeit geradezu ostentativ herausstellt, das aber mit Chuzpe und Konsequenz. Sehr genau hat er immerhin erkannt, daß das Stück im dänischen Original seine Komik gänzlich aus dem Wortwitz des Librettos bezieht. Die Musik ist damit minutiös verwoben. Einem des Dänischen nicht mächtigen Publikum ist das nur durch eine gute Übersetzung zu vermitteln. Da es sich aber über weite Strecken um ein Konversationsstück handelt, wären die Zuschauer ganz damit beschäftigt, die Übersetzung auf der Übertitelanlage mitzulesen. Das Bühnengeschehen wäre völlig an den Rand gedrängt. Kratzer aber, und das kann dann doch als kleiner Inszenierungscoup bezeichnet werden, stellt die Übertitelanlage wie einen längs gekippten Monolithen in das Zentrum der Bühne, wo man nun sehr bequem den in großen Lettern und angenehmer Schrift ablaufenden Text mitlesen kann, auf daß einem keine Pointe entgehe. Mal schwebt der Monolith über den Darstellern, mal wird er zum Bühnenboden herabgesenkt. Szenische Aktionen werden darum herum arrangiert. Trotz der physischen Präsenz des Textes läßt Kratzer das Stück zusätzlich in deutscher Sprache singen. Dazu hat er das Libretto eigens für diese Produktion von Martin G. Berger ins Deutsche übersetzen und aktualisieren lassen. Das scheint im Hinblick auf Duktus und Prosodie gelungen zu sein. Die größere Herausforderung für den Übersetzer war es jedoch, adäquate Endreime und Entsprechungen für die zahlreichen Wortspiele des Originals zu finden. Da ist mitunter die Lust am Kalauer mit Martin Berger durchgegangen, was ihm beim Schlußapplaus – angemessenerweise darf er sich nach dem Produktionsteam zeigen – einige saftige Buhrufe einbringt. Nach dem Motto „Reim dich, oder ich freß dich!“ gibt es reichlich Schenkelklopfer und einige Zoten – je länger der Abend dauert, desto mehr. Und so ersetzen die sich in den Vordergrund drängenden Schrifteinblendungen nicht selten das, was an Inszenierungsideen fehlt. Sogar Regieanweisungen und Beschreibungen der Szenerie aus dem Libretto werden eingeblendet. Der nackte Text muß leisten, was der Bühnenbildner verweigert.

Routinierte Personenregie wird immer da überboten, wo einer der Protagonisten mit seinem schauspielerischen Talent wuchert. Das gilt besonders für Alfred Reiter als reaktionärer Vater Jeronimus, der sich in der Welt der jungen Leute nicht zurechtfindet. Die Partie kommt ihm auch stimmlich entgegen, da sie nicht zu hoch liegt und ihm im bequemen Ambitus erlaubt, seine Fähigkeit zur prononcierten Textgestaltung mit knorrigem Baß vorteilhaft herauszustellen. Für eine der wenigen Arien des Stücks, mehr ein Lied im Volkston, bekommt er sogar Szenenapplaus. Als seine unbefriedigte Ehefrau Magdelone weiß Susan Bullock zu überzeugen. Jahrzehntelang hat sie ihre hell timbrierte und eher schlanke Stimme mit hochdramatischen Partien von Elektra bis Brünnhilde verschlissen. Nun überrascht sie angenehm mit einem geschmackvollen Einsatz ihres immer noch gut ansprechenden Materials. Mit quecksilbrigem Parlando beglaubigt sie, daß in der reifen Ehefrau noch Feuer und Abenteuerlust lodern. Im Zentrum steht aber Liviu Holender als Hendrik, eine komödientypische Dienerfigur von der Art des gewitzten Strippenziehers à la Figaro. Sein kerniger Bariton erweist sich als biegsam und wandlungsfähig. Ideal ergänzt wird er von Samuel Levine als zweiter Dienerfigur Arv, der mit jugendlich-frischem Tenor zu gefallen weiß.

Liviu Holender (Henrik) und Samuel Levine (Arv)

Michael Porter macht seine Sache als Jeronimus‘ aufsässiger Sohn Leander ordentlich. Monika Buczkowska als seine Geliebte Leonora überstrahlt ihn mit beinahe zu üppigem Sopran. Saftig-kernig gibt Bozidar Smiljanic den Nachtwächter, der sich aus Richard Wagners Nürnberg nach Kopenhagen verlaufen zu haben scheint. Auch die übrigen kleineren Partien sind wie üblich aus dem vorzüglichen Ensemble rollendeckend besetzt. Der von Tilman Michael vorbereitete Chor fügt sich stimmmächtig und gut gelaunt ein.

Musikalisch ist die Produktion geglückt. Die szenische Umsetzung erlaubt immerhin ein Kennenlernen des weithin unbekannten Werkes. Mehr aber auch nicht.

Michael Demel, 2. November 2021

© der Bilder: Monika Rittershaus