Frankfurt: „Amadigi“, Georg Friedrich Händel

Zweite Vorstellung am 27. September 2021 (Premiere am 25. September 2021)

A Cure for Wellness

Händels frühe Londoner Opern waren Multi-Media-Spektakel, die für das damalige Publikum nicht zuletzt durch ihre Bühneneffekte Anziehungskraft besaßen. Die Gesangspartien wurden für konkrete Sänger-Stars maßgeschneidert, die mit Vokalkunststücken brillieren konnten. Dem Inhalt der Libretti, der Stringenz einer Handlung widmete man geringere Aufmerksamkeit. Die moderne Musiktheaterregie stellt das vor Herausforderungen. Eine bewährte Methode ist es dabei, ein für das heutige Publikum attraktives Setting zu finden, das die Handlung als Rahmen tragen kann und als Spielplatz und Experimentierfeld abwechslungsreich genug ist, um die Zuschauer in der barockoperntypischen Abfolge langer Arien nicht zu ermüden. Das Bockenheimer Depot als offener Raum, der zu kreativen Lösungen jenseits einer Guckkastenbühne geradezu herausfordert, ist ein idealer Ort für solche szenischen Experimente. Sie sind in jüngerer Vergangenheit immer wieder bemerkenswert gut geglückt, zuletzt mit dem Tamerlano des us-amerikanischen Regisseurs R.B. Schlather, dessen brillante Belebung von Cimarosas „L’Italiana in Londra“ gerade am Großen Haus das Premierenpublikum begeistert hat.

Kateryna Kasper (Oriana) und Brenna Hall (Amadigi)

Nun also durfte sich der junge Regisseur Andrea Bernard an Händels Zauberoper Amadigi probieren. Der titelgebende Ritter ist mit dem Prinzen Dardano im Reich der Zauberin Melissa gefangen. Ebenfalls gefangen ist dort die von Amadigi angebetete Oriana. In diese hat sich auch Dardano verliebt. Die Zauberin wiederum hat sich in Amadigi verguckt. Es gibt Flucht- und Rettungsversuche, Verrat und Mißverständnisse, und am Ende sind Dardano und Melissa tot, die beiden Liebenden aber vereint.

Beth Taylor (Dardano)

Das Produktionsteam hat das Bockenheimer Depot in ein Sanatorium verwandelt, in dessen Zentrum ein gekachelter Raum für Wasseranwendungen mit Tretbecken und Duschen steht (Bühnenbild von Alberto Beltrame). Das Publikum wird dahin durch schmale weiße Gänge geleitet. Mitarbeiter in Anstaltskleidung säumen den Weg und halten Wassergläser für eine Trinkkur bereit. Im zentralen Anwendungsraum wabert beim Eintreffen des Publikums Wasserdampf. Aus Lautsprechern hört man mit Surroundeffekt Wasser plätschern und tropfen. Es beginnt zunächst harmlos mit therapeutischen Anwendungen für Amadigi und Dardano. Sie bekommen Blutegel auf die Arme gesetzt und müssen im Becken wassertreten. Bald aber merkt man, daß mit diesem Ort etwas nicht stimmt. Patienten wie Personal wird eine eigenartige grün-blaue Flüssigkeit mit Spritzen verabreicht. In einer Vitrine wird ein seltsam ledriges Präparat ausgestellt, das sich später als Herz der Zauberin entpuppt. Diese tritt als Anstaltsleiterin auf, die offenbar die Insassen nicht nur mit physischer Gewalt, sondern auch mit Magie an diesen seltsamen Ort bindet. Nicht jedes Detail der Inszenierung ist restlos schlüssig. Manches bleibt bis zum Ende rätselhaft, wie etwa die Krähen-Metapher, die in unterschiedlichen Formen immer wieder präsent ist.

Die Regie kann sich bei der szenischen Belebung der Arien auf die engagierten Schauspielleistungen ihrer vier Protagonisten verlassen. Außerdem weidet sie sich an dem durchtrainierten, schlanken Körper des jungen Countertenors Brennan Hall in der Titelrolle.

Seinen nackten Oberkörper darf er ausgiebig präsentieren, schließlich auch nur mit Shorts bekleidet ins Wasserbecken eintauchen, um effektvoll wieder aus ihm emporzuschnellen.

In einer Szene wähnt Oriana ihn tot auf dem Wasser treibend, woraufhin sie ihn an den Beckenrand zieht. Es entsteht das Bild einer Pietà wie in Marmor gehauen. Stimmlich allerdings bleiben bei Hall Wünsche offen. In der Tiefe klingt er blaß, Koloraturen wirken mit starker Aspiration mitunter durchgehechelt. Zudem hat er in punkto Tragfähigkeit und Dynamik das Nachsehen gegenüber den drei übrigen Darstellerinnen.

An vorderster Stelle zu nennen ist Kateryna Kasper in der Partie der Oriana. Die Frankfurter Stammsopranistin befindet sich aktuell auf dem Höhepunkt ihrer stimmlichen Fähigkeiten. Mit einem herrlich runden, honigsüßen Ton umschmeichelt sie ihren Geliebten. Verzierungen, Melismen und Koloraturen werden mit einer staunenswerten Makellosigkeit dargeboten. Sie erscheinen bei der Kasper nicht als Vokalkunststückchen, sondern als selbstverständlicher, ja notwendiger Teil ihrer Gestaltungskunst. Schon diese beglückende Gesangsleistung wäre Grund genug für den Besuch der Produktion.

Elisabeth Reiter als Melissa

Elisabeth Reiter bietet als Zauberin Melissa dazu einen reizvollen Kontrast. Ihr biegsamer Sopran ist nicht minder koloraturensicher. Aber sie mischt ihrer Stimme immer wieder gut dosierte Schärfe bei, schleudert giftig ihre Spitzentöne gegen ihre Widersacher. Die Mezzosopranistin Beth Taylor verleiht dem Dardano mit satter Tiefe und kraftvoller Mittellage ein passend maskulines Timbre.

Das Orchester unter der Leitung von Roland Böer säumt das Ganze in gewohnter Frankfurter Manier mit biegsamem und farbigem Barocksound, der keine Wünsche offenläßt. Gut gelungen ist der differenzierte Einsatz von Harmonieinstrumenten zur Begleitung der Rezitative, wobei besonders der Einsatz eines Orgelpositivs hervorsticht.

Noch nie hat in den vergangenen Jahren eine Barockopern-Produktion am Bockenheimer Depot enttäuscht. Die Vorstellungen sind daher üblicherweise bereits lange vor der Premiere ausverkauft. Durch die kurzfristige Freigabe von ursprünglich aus Corona-Gründen gesperrten Plätzen sind jedoch für die Folgevorstellungen am 1., 3., 4., 6. und 7. Oktober noch Restkarten zu bekommen. Wir empfehlen zuzugreifen.

Michael Demel, 29. September 2021

Photos: Barbara Aumüller