Frankfurt: „Peter Grimes“, Benjamin Britten

Bericht von der Premiere am 8. Oktober 2017

Werktreue mit visionärem Ende

Benjamin Brittens erste große Oper hat keinen strahlenden Helden. Die Titelfigur ist in der Vorlage „The Borough“ von George Crabbe ein derber, zur Gewalt neigender Finsterling. Daß unter seiner Obhut immer wieder Lehrbuben zu Tode kommen, weckt den Argwohn der Bewohner seines Dorfes. Nicht ganz zu Unrecht, denn als Lehrherr ist er ein Menschenschinder. Bei seinen Versuchen, die Dorflehrerin Ellen Orford, den einzigen Menschen, der zu ihm hält, für sich zu gewinnen, steht ihm seine eigene Derbheit im Wege. Er hängt der fixen Idee an, sie erst heiraten zu können, wenn sein Fischerhandwerk ihn zu Wohlstand geführt hat. Ihre Zuneigung erwidert er derweil mit Schroffheit. Diese Beziehung ist gescheitert, bevor sie beginnen konnte.

Sara Jakubiak (Ellen Orford), Vincent Wolfsteiner (Peter Grimes) und Theodor Landes (Lehrjunge John)

Britten hat die Vorlage durch seinen Librettisten Montagu Slater modifizieren lassen. Peter Grimes sollte als tragischer Außenseiter, als Unverstandener in einer mißgünstigen, rohen Gesellschaft gezeigt werden. Schonungslos werden die Dorfbewohner als bigotte Meute gezeigt, die sich nur allzu gerne zum Lynchmob gegen den Sonderling formiert. Vieles und Tiefsinniges ist geschrieben worden über den autobiographischen Subtext des Werks. Britten, der Homosexuelle, habe sich in der Titelfigur wiedergefunden. Selbst eine Neigung zur Pädophilie finde sich verschlüsselt in der Gewalt gegen die Lehrbuben wieder. Christof Loy hat folgerichtig 2015 im Theater an der Wien Brittens Werk plakativ als Schwulen-Oper ausgestellt. Einen anderen, ungemein faszinierenden Weg der tiefenpsychologischen Ausleuchtung ist vor einem Jahr am Staatstheater Wiesbaden Philipp M. Krenn gegangen, der ein perfekt auf die Musik abgestimmtes Psychogramm eines Mißbrauchsopfers gezeichnet hat. Man fragte sich nun, welche neuen Deutungsebenen Keith Warner in seiner Frankfurter Regie erschließen würde, zumal ihm mit Norbert Abels ein ausgewiesener Britten-Kenner und tiefschürfender Ausdeuter von Texten und Partituren als Dramaturg zur Seite stand. Die so einfache wie verblüffende Antwort lautet: Es gibt keine zusätzlichen Deutungsebenen. Kein versteckter Mißbrauch, keine unterdrückte Homoerotik. Gezeigt wird einfach nur ein Außenseiter in einer rauen Umgebung, den die Bösartigkeit seiner Mitmenschen in den Tod treibt. Warners Könnerschaft erweist sich dabei in seiner Fähigkeit, Personen präzise zu zeichnen und Massen plausibel zu führen. Diese Inszenierung ist immer nah am Text und dicht bei den Figuren. Alles läuft auf das in seiner Schlichtheit spektakulär gelungene und beinahe körperlich schmerzhafte Abschiedsbild im dritten Akt hinaus. Peter Grimes steht alleine in seinem Fischerboot in der Mitte der schwarzen, leeren Bühne und singt seinen großen Schlußmonolog. Im Orchestergraben ist das Licht erloschen. Der Gesang ist über weite Strecken unbegleitet. Er wird lediglich kommentiert durch von Ferne hinter den Kulissen hereinwehende Choreinwürfe. Hinter ihm aber leuchtet ein auf den Rückprospekt gemalter heller Tunnel, der nicht zufällig an den berühmten Lichttunnel aus Hiernonymus Boschs Bildtafel „Die Aufnahme der Seligen in den Himmel“ erinnert.

Vincent Wolfsteiner (Peter Grimes)

„Since the solution is beyond life, beyond dissolution“ (Nun liegt die Lösung nicht mehr im Leben, nicht mehr in dieser Welt) – das hatte zuvor der Grimes zuneigte Balstrode gesungen. Und genau das haben Keith Warner und sein Bühnenbildner Ashley Martin-Davis visualisiert: einen jenseitigen Ort. Dieses Bild besitzt eine solche Kraft und Überzeugung, daß man der Regie die eine oder andere Halbherzigkeit zuvor verzeiht. Sogar der Ärger über einen fürchterlichen handwerklichen Schnitzer verblaßt davor: Ausgerechnet Brittens großartige Orchesterpassacaglia hatte der Regisseur nämlich dadurch ruiniert, daß währenddessen laut knarzend und ächzend eine Kaimauer als bestimmendes Kulissenelement auf offener Bühne mühsam verschoben wurde, nur damit anschließend ebenso sinnbefreit ein auf Rollen gesetztes Boot auf dem Bühnenboden wiederum vernehmlich rumpelnd und bollernd herumgefahren werden konnte, um auch die letzten Takte der Musik zu zerstören.

Das Bühnenbild wird im Übrigen von den besagten Kaimauern bestimmt, die variabel angeordnet werden können und schnelle Szenenwechsel ermöglichen. Rückprospekte zeigen zu Beginn naturalistische, später auch stilisierte Seebilder, denen es gelingt, nicht kitschig zu wirken. Es herrscht auf der Bühne von Anbeginn eine düstere und bedrückende Atmosphäre, die immer dann, wenn die Chormassen erscheinen, noch zusätzlich etwas Beengtes, Klaustrophobisches beigemischt bekommt. Die Kostüme (Jon Morrel) verorten die Szene dem Libretto gemäß im 19. Jahrhundert. Und da die Regie sich meist irgendwelcher Mätzchen und schon gar der berüchtigten „Regieeinfälle“ enthält (mit Ausnahme der Sturmmusik, zu der überflüssiger Weise ein wie Kai-aus-der-Kiste plötzlich aus einem Boot aufgetauchter Fremder vom Mob zuerst gejagt und dann aufgeknüpft wird), kann man von einer werktreuen Inszenierung sprechen.

Auch die Beurteilung der Leistung von Vincent Wolfsteiner in der Titelpartie wird ganz vom Eindruck des Schlußbildes bestimmt. Wie er den musikalisch vertrackten Monolog unbegleitet und ungestützt bewältigt, nötigt Respekt ab. Seine vokale und mimische Gestaltung dieser Szene ist der unangefochtene Gipfelpunkt des Abends. Auch für ihn gilt: Vor dieser Leistung verstummt die Kritik, mit der man an seinem mitunter etwas tapsig-unbeholfenen Auftreten in einigen Szenen zuvor herummäkeln könnte, oder die Ernüchterung darüber, daß auch er wie so viele andere Sänger dieser Partie einfach nicht die nötige Registermischung hinbekommt, um die Tonwiederholungen in der großen Arie „Now the Great Bear and Pleiades“ sicher gestützt und doch schwebend erklingen zu lassen. Als sich dann schließlich bei einem Ton die Stimme überschlägt, bringt Wolfsteiner, wohl um kein weiteres Risiko einzugehen, den Rest dieser Arie nur mit gleichsam angezogener Handbremse zu Ende.

Wolfsteiners Stimme bewegt sich genau in der Mitte der beiden großen, prägenden Rollenvorbilder Peter Pears und Jon Vickers: Wie Peter Pears nutzt er ausgiebig das Kopfregister, was bei exponierten Höhenlagen zu hellen und regelrecht gleißenden Tönen führt. Wie Jon Vickers aber verfügt seine Stimme über heldentenorale Kraft, die ihn zu großen dynamischen Ausbrüchen befähigt. Im italienischen Fach ist diese Technik wegen der mangelnden Körperverankerung der Stimme indiskutabel, im deutschen Heldenfach wegen der klanglichen Nähe zum Charaktertenor Geschmackssache, bei Britten aber kann sie ihre Vorzüge entfalten, ohne daß die Nachteile sich störend in Erinnerung rufen.

Auch Sara Jakubiak zeigt als Ellen Orford eine ihrer bislang besten Leistungen im Frankfurter Ensemble. Ihr technisch tadellos geführter, etwas herber Sopran kommt bei Britten ausgezeichnet zur Geltung. Ordentlich schlägt sich James Rutherford als Captain Balstrode, dessen ausgeprägtes Tremolieren gerade in höheren Passagen man allerdings mögen muß. Man hat diese Partie schon kerniger und mit besser fokussierter Stimme gehört.

Es gibt neben den Sängern der Hauptfiguren einen weiteren Hauptdarsteller: den Chor. Die Applausordnung nimmt das auf: Zuerst erscheint Wolfsteiner alleine auf der Bühne, dann der Chor, dann erst die übrigen Darsteller. Den Einzelapplaus hatte sich das von Tilman Michael perfekt vorbereitete Sängerkollektiv zuvor durch beeindruckend homogenen, fülligen, aber wo nötig geradezu brutalen Klang verdient. Auch die übrige Besetzung bereitet noch in der kleinsten Partie große Freude. Iurii Samoilov, der mit seinem saftigen Bariton die Rolle des Ned Keene aufwertet, AJ Glueckert, der den religiösen Fanatismus des Bob Boles mit seinem prächtigen Tenor musikalisch glaubwürdig zeichnet, ohne eine Karikatur abzuliefern, Peter Marsh, der sich als Pastor Adams mit obertonreicherem Tenor gut davon abhebt, Barnaby Rea als Hobson, der auch mit wenigen Tönen seines schlanken Baßbaritons aufhorchen läßt, das quecksilbrige Duo Sydney Mancasola und Angela Vallone als Freudenmädchen: Hier zeigt sich, daß man in Frankfurt gerade bei der Besetzung von Nebenrollen aus dem Ensemble keine Kompromisse eingehen muß. Arrondiert wird diese Hausbesetzung mit ebenso fabelhaften Gästen: der großen Jane Henschel als Auntie, die auch im Herbst ihrer Karriere mit den beachtlichen Resten ihrer Stimme und einer enormen Bühnenpräsenz noch Eindruck machen kann, Clive Bayley als knorrig-sonor klingendem Swallow und der wunderbaren Hedwig Fassbender als nicht übertrieben schrulliger Witwe Sedley.

Da das Produktionsteam so professionell war, mit einem die Bühne in der Höhe begrenzenden hölzernen Klangsegel bei der an sich akustisch heiklen Offenheit und Tiefe des Bühnenraumes für eine gute Reflexionsfläche zu sorgen, sind alle Sänger (zumindest im ersten Rang) ausgezeichnet und klar zu hören.

Zu den spannenden Fragen des Abends gehörte, wie der Wagner- und Strauss-Spezialist Sebastian Weigle seinen ersten Britten in Frankfurt anlegen würde. Spätromantisch gerundet, klanggesättigt, mit Reminiszenzen an die große Operntradition? Nichts von alledem. Das hochkonzentrierte Orchester spielt trennscharf und unsentimental auf. Da ist in den berühmten Seebildern der Zwischenspiele nicht wie üblich ein gleichsam angerauter Impressionismus zu hören. Mit klar konturierter Nüchternheit treibt Weigle der Partitur alles Heimelige, Illustrative aus und legt das Disparate der Instrumentierung frei. Dabei animiert er das Orchester zu einem in den Extremen ausgereizten Dynamikspektrum vom leisesten Pianissimo bis zum hart ins Publikum geschleuderten Fortissimo. Selten hört man das so modern, selten werden das Wesen von Brittens Musiksprache, seine Singularität unter den großen Komponisten des 20. Jahrhunderts so ohrenfällig. Wie auf der Bühne Licht mit hohem Blauanteil überwiegt und der Szene eine unerbittliche Härte verleiht, so hat auch Weigle den Klang seines Orchesters eingefärbt: kalt-leuchtend und stark, mit einer Brillanz, die nichts Glattes hat.

Mit dem überwältigenden Schlußakt hat die Aufführung auch die letzten Skeptiker und Gleichgültigen im Publikum für sich eingenommen. Der Schlußapplaus ist für alle Beteiligten stark, Wolfsteiner, Jakubiak und der Chor ernten Bravi, und beim Auftritt von Regisseur und Bühnenbildner ist nicht die kleinste Unmutsbekundung zu vernehmen. Die Produktion hat das Zeug zum Longseller.

Weitere Vorstellungen gibt es am 12., 14., 19., 22. und 27. Oktober sowie am 5. und 11. November.

Michael Demel, 9. Oktober 2017

Bilder: Monika Rittershaus