Aus dem Libretto von Norma geht nicht hervor, wann oder unter welchen Umständen die Titelfigur Priesterin wurde. Hat sie sich diese Rolle ausgesucht oder wurde sie dazu gewählt, überredet oder gar gezwungen? War das Keuschheitsgelübde ein freiwilliger Entschluss, oder wurde sie von einer Autorität dazu aufgefordert? Natürlich kann keine Inszenierung diese Fragen beantworten, aber es lohnt sich, darüber nachzudenken, warum und wie Norma in eine Position gelangt ist, die sie unglücklich macht.
Der Schauplatz der Geschichte in »Norma« ist sekundär, da er den Hintergrund bildet, vor dem die Hauptfiguren interagieren und sich entwickeln. Wie sie im Libretto dargestellt werden, sind die Namen der Figuren und die religiösen Praktiken der Druiden kreative Einfälle. Die Inszenierung von Anthony Pilavachi (Bühne, Kostüm: Markus Meyer), die ich in der Oper Leipzig gesehen habe, hat eine düstere Welt des Konflikts zwischen Besetzern und Besetzten vor einer Kulisse gezeigt, die von kahlen Wänden und harten, kantigen Rahmen dominiert wird, die die Räume darstellen, in denen sich die Handlung abspielt. Es ist gelungen, die Beziehungen zwischen Norma und Pollione, Norma und Adalgisa sowie Pollione und Adalgisa zu zeigen. Die Aufteilung der Räume (groß für die öffentlichen Szenen, klein für die intimen) war eine der Stärken der Inszenierung. Pilavachi erkennt zu Recht an, dass die Tragödie in vielen kulturellen Kontexten spielen könnte, denn die Situation, in der sich die Hauptfiguren befinden, ist eine von vielen gesellschaftlich verbotenen Lieben in Literatur und Oper. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Liebe zwischen Menschen, die politisch (Römer und Druiden) und durch ein religiöses Dogma, das ein Zölibats Gelübde verlangt, getrennt sind.
Die Bühne evoziert ein diktatorisches Regime mit Militäruniformen und Gewehren aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts mit einem Schauplatz zwischen den Weltkriegen. Ein Grund für die Wahl der Zeit und des Ortes war eine praktische Überlegung, die Pilavachi in einem dem Programm enthaltenen Interview erklärte: Ursprünglich war eine Aufführung von »Le Barbares« von Camille Saint-Saëns geplant, die jedoch durch die Pandemie verhindert wurde. Die Kostüme und Requisiten wurden in dieser Inszenierung von »Norma« verwendet, um die Verschwendung zu vermeiden. Obwohl ich Verständnis für diese Umstände habe, hätte ich einen Schauplatz vorgezogen, der die politischen Ereignisse von Bellini und Romanis Zeit (also die Besetzung eines Teils von Norditalien durch die Habsburger) widerspiegelt, weil damit eine zentrale politische Botschaft der Oper angesprochen worden wäre.
In der Hauptrolle glänzte die Sopranistin Roberta Mantegna, die mühelos die hohen Lagen von Bellinis Gesangspartien, einschließlich der mehreren hohen Cs und Passagen über der Notenzeile, erreichte und bei den Abstiegen in die Tiefe keine Kompromisse einging. Mantegna hat die Rolle, insbesondere der berühmten Kavatine „Casta diva“, angemessen ornamentiert und mit eindrucksvoller Beweglichkeit gesungen. Mantegnas dunkles Timbre machte sie zu einer idealen Interpretin der tragischen Heldin, die nicht offensichtlich an eine bestimmte „legendäre“ Sängerin der Rolle erinnert. In jeder Situation stellte Mantegna eine starke, entschlossene Norma dar, die sich letztlich selbst besiegte, weil sie zu ehrlich war (in ihrer Position hätte Norma jede Menge Ausreden finden können, um Pollione zu befreien, ohne sich selbst oder Adalgisa zu belasten).
In der Rolle der Novizin Adalgisa erwies sich die Mezzosopranistin Kathrin Göring als warmherzige, sympathische Freundin von Norma. Göring brachte große Leidenschaft, Wut und Traurigkeit in Adalgisas Interaktionen mit Pollione zum Ausdruck. Die Duette zwischen Adalgisa und Norma waren besonders bewegend, da die beiden Stimmen harmonierten und sich so ergänzten. Der Tenor Dominick Chenes war ein kraftvoller Pollione, der nicht nur eine mit hohen Tessituren durchsetzte Tenorpartie beherrschte, sondern auch in der Lage war, einem römischen Feldherrn, der zwischen seinen Gefühlen für zwei druidische Priesterinnen hin- und hergerissen ist, Sympathie entgegenzubringen.
In der Rolle des Oroveso hat Randall Jakobsh mit seiner starken Bassstimme einen Vater verkörpert, der anfangs streng und unversöhnlich gegenüber seiner Tochter Norma ist, weil sie ihr Gelübde gebrochen hat, dann aber ihrer Bitte nachgibt, sich nach ihrem Tod um seine Enkelkinder zu kümmern. Diese Aufführung beinhaltete eine zusätzliche Arie im ersten Akt, die Richard Wagner 1839 für Oroveso schrieb: „Norma il predisse“. Jakobsh zeigte eine bemerkenswerte Anspannung und Kraft bei der Darstellung seiner Stimme in einer Arie, die eine Lautstärke und ein ähnliches Tiefenmaß wie die des Osmin in Wolfgang Amadeus Mozarts »Die Entführung aus dem Serail« erfordert.
Die kleineren Rollen wurden besetzt von Gabrielė Kupšytė (Clotilde) and Matthias Stier (Flavio). Daniele Squeo leitete das Gewandhausorchester und den Chor der Oper Leipzig in einer lebendigen Aufführung mit transparenten Texturen, die die Spannung aufrechterhielten. Squeo betonte die dramatische Seite der Musik und wies darauf hin, wie sich Bellinis musikalische Sprache von der seines älteren Zeitgenossen Gioachino Rossini unterscheidet.
Daniel Floyd, 4. November 2024
Besonderer Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN
Norma
Vincenzo Bellini
Oper Leipzig
Premiere am 1. Dezember 2024
Inszenierung: Anthony Pilavachi
Musikalische Leitung: Daniele Squeo
Gewandhausorchester Leipzig