Leipzig: „Rosenkavalier“, Richard Strauss (zweite Besprechung)

Die Marschallin sinniert darüber in ihrem wunderbaren Dialog im ersten Akt, will die Uhren gar stehen lassen, kommt aber doch zum Schluss, dass man das Fortschreiten der Zeit einfach als gottgegeben akzeptieren muss. Die ganze Oper ist ein einziger – meisterhafter – Anachronismus. Da werden Elemente aus verschiedenen Epochen gekonnt durcheinandergeworfen und auch frei erfunden, einzig mit dem Ziel tief in die seelischen Befindlichkeiten der Menschen zu blicken. Diesen anachronistischen Ansatz verfolgt das Inszenierungsteam um Regisseur Michael Schulz in dieser Neuproduktion an der Oper Leipzig mit bestechender Klugheit. Michael Schulz, der Bühnenbildner Dirk Becker und die Kostümdesignerin Renée Listerdal bringen das Werk als spannende, unterhaltsame und zugleich tiefsinnige Zeitreise auf die Bühne, stellen jeden der drei Akte in eine Zeit des Umbruchs.

© Kirsten Nijhof

Begonnen wird im ersten Akt mit der Entstehungszeit der Oper, dem Jugendstilu m 1910. Der Jugendstil hat ja mit seiner ausschweifenden Verzierungstechnik auch etwas Rokokohaftes. Die Zeit vor dem ersten Weltkrieg ist auch ein Abschied, ein Abschied von der guten, alten Zeit, vom Kaiserreich, vom Standesdenken. Im zweiten Akt sind wir am Anfang der 1930er Jahre, Umbruch auch da, die Weimarer Republik befindet sich in Auflösung, Faschismus ist auf dem Vormarsch. Ein alter Lüstling, der sich eine junge Frau einfach so nimmt, hat es nicht mehr so leicht. Sophie ist nicht einfach duldendes Opfer einer selbstbewusst singenden jungen Frau: Für mich selber steh’ ich ein.
Ein weiterer Zeitschritt folgt mit dem dritten Akt: Kein Wiener Vorstadtbeisl, sondern die nun heruntergekommene Villa der Feldmarschallin, das Schlafzimmer, ist nun Schauplatz. Wir sind ungefähr in der Zeit von Jugendunruhen, Hausbesetzungen zu Beginn der 1980er Jahre. Allerdings hat der Zahn der Zeit an der Villa genagt. Da, wo das Bett stand, befindet sich nun die Badewanne, ein Bett wurde dafür ins Boudoir gestellt. Die kostbare Tapisserie des ersten Aktes wurde mit schrecklicher 70er Jahre Tapete in orange und braun notdürftig überklebt. Das Haus ist von Rockerbanden und Punks besetzt, die hier unter der Discokugel Party feiern und zu willfährig Faninal im Rollstuhl, die Marschallin mit Brille und ergraut, der Ochs ein Greis, der aussieht wie der gegenwärtige baden-württembergische Ministerpräsident, bis er die Perücke abnimmt. Die Jugend führt die Alten vor und an der Nase herum. Einzig die beiden Liebenden, Sophie und Octavian, altern nicht. Für den Regisseur bedeutet Jugend Liebe und Zukunft. So können die beiden Jungen am Ende jeden Aktes den Aufbruch in die Zukunft wagen. Das Konzept geht wunderbar auf. Die jeweils gut eine Stunde dauernden Akte vergehen wie im Flug, das ist lustig mit Tiefgang, die Personenführung ist so exzellent wie natürlich, das alles hat eine bewegende und zugleich bestens unterhaltende Stimmigkeit. Dazu steht ein spielfreudiges, alle Schattierungen der Schauspielkunst, von vielsagenden Blicken bis zu kleinsten Gesten, beherrschendes Ensemble auf der Bühne, die den Abend zu einem
ganz besonderen Opernerlebnis machen. Solen Mainguené zeichnet die Marschallin mit einer einfühlsamen Stimmgebung. Ihr feiner Sopran verfügt über eine fantastische Pianokultur mit beseelten Tönen, mit denen sie die oftmals melancholische Stimmung der Marschallin großartig zu interpretieren vermag. Gerade in der das Geschehen eröffnenden Liebesszene mit Octavian ist es sehr gut möglich, die beiden Stimmen auseinanderzuhalten, da Mainguenés Sopran leicht herber klingt als Štěpánka Pučálkovás jugendlich-emphatischer Mezzo, der über begeisterndes, raumgreifendes Volumen verfügt und doch nie forciert klingt. Ein Octavian, wie man ihn sich frischer kaum vorstellen kann.

© Kirsten Nijhof

Auch in der Verkleidung als Mariandl ist Frau Pučálková unglaublich komisch und bringt die schrägen Töne im dritten Akt mit gekonnt ordinärem Touch zum Klingen. Olga Jelínková steuert der Überreichung der silbernen Rose im zweiten Akt wunderbare silberne Klänge in höchster Lage bei, zeigt im weiteren Verlauf Naivität und zunehmende Selbstbestimmung auf überzeugende Weise, ein rundum gelungenes stimmliches und darstellerisches Porträt der jungen Frau auf dem Weg zum Erwachsenenleben. Wenn sich die drei so unterschiedlich timbrierten Stimmen im Terzett des dritten Aktes Hab mir’s gelobt mit Gänsehaut erregender Emphase verschlingen und im Fortissimo kulminieren, dann ist das ein dermaßen beseelender Moment wie kaum ein zweiter in der Opernliteratur. Außer vielleicht dem gerade nachfolgenden Duett Octavian – Sophie Ist ein Traum, darf nicht wirklich sein. Wahrlich traumhaft schön gesungen und die nun so verspielt poetische Inszenierung mit den zurückfahrenden Wänden, die dann hinter schwarzen Vorhängen versteckt werden, tut das ihrige zur Zeitlosigkeit der Liebe dazu. Kurz erscheint ganz am Ende noch die Marschallin, und der nun auch sichtlich gealterte Mohamed, der im ersten Akt ein blutjunger, aber wissender Diener war, reicht der steinalten Frau das berühmte weiße Spitzentaschentuch. Herzergreifend!

Tobias Schabel gibt einen hervorragenden Baron Ochs. Er spielt mit genau der richtigen Prise Derbheit, würzt diese mit etwas Augenzwinkern, kann auch richtig poltern und blasiert sein – im zweiten und vor allem im dritten Akt ein Fossil, völlig aus der Zeit in eine Welt gefallen, die er als alter, weißer Mann nicht mehr versteht, so dass man schon beinahe Mitleid mit ihm hat. Seine Stimmführung ist ohne Fehl und Tadel, sogar von einer passenden Noblesse, und stets auch die tiefsten Töne bombensicher erreichend. Mathias Hausmann gibt einen stimmstarken, mit großartiger Präsenz aufwartenden Faninal, zum Glück mal einer von der nicht allzu weinerlichen Sorte.

Aus dem babylonischen Tohuwabohu des Levers im ersten Akt ragt Piotr Buszewski als Sänger heraus. Was für eine wunderbar geführte Tenorstimme ist denn da zu erleben! Ein Erlebnis der Extraklasse. Schade wird er in der zweiten Strophe vom Ochs wegen des Disputs mit dem Notarius um die blöde Morgengabe so abrupt unterbrochen. Buszewski hätte man auch über fünf Strophen gerne weiter zugehört. Die Intrigantin Annina wird mit großer Spielfreude von  Ulrike Schneider interpretiert. Ochs hätte Annina wohl am Ende des zweiten Aktes vernascht, wäre er vom alten Tokajer nicht zu betrunken gewesen. Anninas Blick, als sie realisierte, dass da nichts mehr läuft, war urkomisch! Ihr Partner in Crime ist der umtriebige Valzacchi von Àlvaro Zambrano. Die stets trippelnde alte Jungfer Leitmetzerin ist bei Caroline Stein bestens aufgehoben. Peter Dolinšek strahlt als Polizeikommissar sonore Autorität aus. Auch die vielen kleineren Rollen sind allesamt exzellent und mit darstellerisch versierten Sängern besetzt.

© Kirsten Nijhof

Im Graben untermalt und bereichert das Gewandhausorchester unter der Leitung von Christoph Gedschold das mal turbulente, mal nachdenklich-melancholische Geschehen auf der Bühne mit einer bezwingenden Farbigkeit, welche dem einzigartigen Orchestrator Strauss in allen Facetten gerecht wird. Der komponierte Orgasmus, mit welchem das Vorspiel die Liebesnacht der Marschallin mit dem 17jährigen Octavian schildert, ist von unfassbarer musikalischer Intensität und gleißender Brillanz. Gedschold führt mit irrem, vorwärtsdrängendem Zug durch die lange, vielschichtige Partitur, lässt schimmern und leuchten, walzern und geistern, dass man noch so gerne eintaucht in diesen gewaltigen musikalischen Strudel!

Kaspar Sannemann, 7. Mai 2024


Rosenkavalier
Komödie für Musik von Richard Strauss

Oper Leipzig

Premiere am 30. März 2024
Besuchte Aufführung: 4. Mai 2024

Inszenierung: Michael Schulz
Musikalische Leitung: Christoph Gedschold
Gewandhausorchester Leipzig

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